Ein Besuch im Athener Viertel Exárchia

Exárchia, ein Jahr später

Die Erschießung eines Schülers durch einen Polizisten löste im Dezember vergangenen Jahres in Griechenland heftige soziale Proteste aus. Universitäten und Schulen wurden besetzt, von einer »Revolte« der Jugendlichen war die Rede. Ein Jahr später droht Griechenland der Staatsbankrott, und die soziale Wut könnte erneut explodieren.

Ein riesiges schwarzes Banner hängt über der Zavella-Straße in Exarchia, an der Stelle, wo am 6. Dezember vergangenen Jahres der 15jährige Alexis Grigoropoulos von einem Polizisten erschossen wurde. »Wir vergessen nicht. Wir vergeben nicht. Rache!«, ist mit großen weißen Buchstaben auf dem Banner zu lesen. Einige Kerzen leuchten im Abendlicht. Blumensträuße und dem erschossenen Schüler gewidmete Gedenkschreiben hängen an der Wand neben dessen Bild. Eine Gruppe von Jugendlichen sitzt in einer dunklen Ecke und trinkt Bier. Sie werfen wütend die Flaschen auf einem Hinterhof.

Iro läuft entspannt durch die Strasse. Die 28jährige ist vor kurzem in Exárchia eingezogen. Der Stadtteil gilt als Hochburg von Anarchisten und Autonomen, gleichzeitig ist es ein Künstler- und Studentenviertel. Die junge Kulturmanagerin hat am Jahrestag der Erschießung von Grigoropoulos an den Demonstrationen teilgenommen und wollte friedlich gegen die Polizeigewalt protestieren, bis sie dann die gewaltsamen Ausschreitungen erlebte. »Ich bin gegen die Gewalt der Anarchisten und Autonomen, weil sie keine Vision haben. Es ist einfach blinde Wut gegen jede Form von Macht«, sagt sie.
Am 6. Dezember und in den folgenden Tagen fanden in Athen täglich Demonstrationen statt. Sie hatten nicht die Intensität der Proteste im vorigen Jahr, aber die Polizei ging hart mit den Demonstranten um. Exárchia wurde mit Sondereinheiten abgeriegelt. Die Doktrin der sozialdemokratischen Regierung lautet »Null Toleranz gegen das Verbrechen und die Korruption«. Rund 800 Menschen wurden in ganz Griechenland während der Demonstrationen festgenommen. Ähnlich wie im vergangenen Jahr äußerten sich die griechischen Medien kritisch gegenüber den Methoden der Polizei. Der renommierte Kolumnist Giorgos Delastik schrieb etwa in der linksliberalen Zeitung To Ethnos: »Polizisten nehmen jeden fest, dem sie begegnen. Sie fahren mit ihren Motorrädern auf die Demonstranten zu und drohen mit ihren Pistolen. Versteht denn die Regierung nicht, dass sie mit dieser Logik die Polizisten dazu bringt, jeden Demonstranten als einen Feind zu betrachten?«

Seit mehr als einem Jahr wird in der griechischen Öffentlichkeit über »Gewalt« diskutiert. Dabei wird kaum zwischen militanten Aktionen auf Demonstrationen und bewaffneten Anschlägen differenziert. Jüngst wurde der Begriff »neuer Terrorismus« eingeführt, um die Aktionen linksextremer Gruppen zu beschreiben, die im vergangenen Jahr immer wieder Anschläge verübten, vor allem gegen Polizisten. Die öffentliche Meinung ist über dieses Thema gespalten, wie eine aktuelle Studie der Firma Kapa Research zeigt: 44 Prozent der Befragten gaben in einer Umfrage an, Verständnis für die Argumenten der gewalttätigen Gruppen zu haben, 46 Prozent lehnen die Gewalt ab. Besorgniserregend für die griechischen Soziologen ist aber die Aussage von rund 40 Prozent der Befragten, wonach sie kein Interesse daran hätten, den so genannten neuen Terrorismus zu verurteilen. Die Vermutung, dass es demnächst zu neuen Ausschreitungen kommen könnte, ist verbreitet.
Dass die soziale Wut erneut explodieren könnte, ist angesichts der wirtschaftlichen Lage in Griechenland nicht unwahrscheinlich. Die Meldungen der vergangenen Woche über die hohe Verschuldung, die zu einem Staatsbankrott führen könnte, beunruhigen bislang aber vor allem die Regierung. Wirtschaftsanalysten betonen, dass die Griechen keine bedingungslosen Finanzhilfen von den europäischen Nachbarn erhalten würden. Als Folge der Herabstufung der griechischen Kreditwürdigkeit verlangt die EU von der neuen sozialdemokratischen Regierung die Erarbeitung und Umsetzung eines harten Sparprogramms. Doch entsprechende Reformen scheinen innenpolitisch kaum durchsetzbar, und die so genannte Schattenwirtschaft wird weiterhin einen großen Teil der Ökonomie ausmachchen. Die Regierung will nächste Woche harte Maßnahmen ankündigen. Es wird befürchtet, dass diese unter anderem Kürzungen der Sozialausgaben und der Nettolöhne vorsehen. In den vergangenen Wochen fanden fast täglich Proteste von Arbeitern statt.
Die Befunde der Kapa Research-Studie zeigen weiter, dass sich an der Meinung der Befragten über die Gründe der Ausschreitungen im vorigen Jahr nicht viel geändert hat. Die Antworten fallen zwar differenzierter aus, die soziale, politische und wirtschaftliche Krise wird jedoch weiterhin als Hauptgrund der Revolte betrachtet.
Es ist Mittwochabend und die Straßen in Exárchia wie in ganz Athen sind voll mit Müll: Die Müllabfuhr streikt seit einer Woche. Die Gewerkschaften fordern mehr Festeinstellungen, da jeder zweite, der in diesem Arbeitssektor arbeitet, auf Zeit beschäftigt ist. Ein widerlicher Gestank breitet sich aus, die Mülltonnen, die bei den letzten Ausschreitungen brannten, liegen noch auf der Straße.
Myrtia, eine 31jährige Archäologin, sieht deprimiert auf die Müllberge. Sie ist in Exárchia aufgewachsen und kennt die Kämpfe zwischen Polizisten und Anarchisten in diesem Viertel schon seit ihrer Kindheit. Auch sie ist auf Zeit beschäftigt, sie arbeitet an einem Ausgrabungsprojekt in Piräus. Immer wieder ist sie mit der Frage konfrontiert, was sie nach dem Ablauf ihres Vertrags machen wird. Griechenland hat eine der höchsten Raten der Jugendarbeitslosigkeit in ganz Europa. An der Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, die vor einem Jahr als einer der Hauptgründe der sozialen Gewalt galt, wird sich auch unter der neuen sozialdemokratischen Regierung kaum etwas ändern. Die Lage wird sogar schlimmer.

Nach der Wahl im September hat die Regierung beschlossen, ein Berufsbildungsprogramm im öffentlichen Dienst zu beenden, das im vergangenen Jahr Hunderte Arbeitsstellen für junge Menschen geschaffen hatte. Die entsprechenden Verträge werden nun nicht mehr verlängert. Die entlassenen Angestellten reagieren derzeit mit mehrtägigen Streiks und kündigten an, die Regierungsbeschlüsse vor Gericht zu bekämpfen.
Myrtia hat an den Demonstrationen nicht teilgenommen, nicht voriges Jahr und auch nicht dieses Mal. Trotzdem ist sie wütend über die Erschießung des 15jährigen Alexis und hatte Sympathien für die große Protestwelle vom vergangenen Jahr. »Die Polizei hat damals eine Grenze überschritten. Solche Sachen sind nur während der Junta passiert«, sagt die junge Frau. »Die Grenzen der Gewalt dürfen weder von der Polizei noch von den Demonstranten überschritten werden«, fügt sie hinzu.