Die gemäßigten Regierungsgegner im Iran

Protest mit Maß

Mohsen Kadivar, ein Schüler des kürzlich verstorbenen Ayatollah Montazeri, gehört zu den islamischen Reformern im Iran. Sie wenden sich gegen die Regierung, wollen aber in der Protestbewegung Mäßigung erzwingen.

Der Tod seines Mentors Großayatollah Montazeri am 20. Dezember bedeute keinen Verlust für die »Grüne Bewegung« im Iran, sagte dessen bedeutendster Schüler, der inzwischen im US-amerikanischen Exil als Professor islamische Theologie lehrende Mohsen Kadivar noch ganz entschieden. Allerdings warnte er auch davor, dass es zu »offener Rebellion« kommen könne, falls das Regime nicht auf die Opposition zugehe.
Das war einen Tag vor Ashura, dem Feiertag, an dem Schiiten des »Märtytertods« ihres Imams Hussein im 7. Jahrhundert in der Schlacht von Kerbala gedenken. Der Überlieferung zufolge hatte Hussein sich mit nur 72 Getreuen den 10 000 Soldaten des Kalifen Yazid gestellt. Der Zufall wollte es, dass im vorigen Jahr Ashura, bei den Schiiten ein Tag der Trauerfeierlichkeiten, mit dem siebten Tag nach dem Tode Montazeris zusammenfiel.
Im schiitischen Islam wird traditionell bei den Ashura-Feierlichkeiten sehr viel öffentlich geweint und gelitten, doch in vielen Städten im Iran, insbesondere in Teheran, kam es diesmal anders. Hunderttausende, nach manchen Schätzungen Millionen von Iranern, demonstrierten und riefen Parolen gegen die Regierung, einige auch gegen die Islamische Republik und den religiösen Führer Ali Khameinei. Das war auch vor Montazeris Tod schon geschehen, aber bei diesen Protesten kam es zu Straßenschlachten, die offenbar an Heftigkeit noch jene vom vergangenen Juli übertrafen (Jungle World 1/01).
Inzwischen haben Mohsen Kadivar und vier weitere namhafte Exilintellektuelle, darunter auch Abdulkarim Soroush, der vielleicht bedeutendste Theoretiker der Reformbewegung, eine Liste von »zehn vorläufigen Forderungen der Grünen Bewegung« im Internet veröffentlicht. Sie fordern darin neben dem Rücktritt von Präsident Mahmoud Ahmadinejad und Neuwahlen unter unabhängiger Aufsicht, ohne den Ausschluss unliebsamer Kandidaten durch den religiösen Wächterrat, auch die Freilassung von politischen Gefangenen, die Untersuchung aller Fälle von Folter und Vergewaltigung in den Gefängnissen sowie die Garantie von Presse- und Versammlungsfreiheit, die politische Unabhängigkeit der Universitäten, der Justiz und des Klerus und die »Entfernung der bewaffneten Organe und Sicherheitskräfte aus den politischen, kulturellen und ökonomischen Sphären«. In Zukunft soll über die Besetzung aller hochrangigen Positionen in Wahlen entschieden, Ämter sollen nur zeitlich begrenzt ausgeübt werden.

Sollten diese Forderungen erfüllt werden, wäre das politische System der Islamischen Republik Iran eigentlich nicht wiederzuerkennen. Die Forderungen zeigen, wie weit das System von Freiheit und Gleichheit – neben der Forderung nach einer »Islamischen Republik« die beiden anderen Gründungsparolen des Gottesstaates – entfernt ist. An diese Gründungsparolen und die grundsätzliche Legtimität der »islamischen Revolution« glauben Kadivar und seine Mitstreiter wie Soroush und der Publizist Akbar Ganji nach wie vor. Ihrer Ansicht nach wurden die ursprünglichen Ideale der Revolution durch Khomeinis Lehre von der velayat e-faqih, der »Statthalterschaft«, faktisch der diktatorischen Herrschaft des obersten religiösen Rechtsgelehrten, bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und letztlich zerstört.
In den frühen achtziger Jahren gehörten sie selbst zu den glühendsten Verehrern Khomeinis, dessen designierter Nachfolger Montazeri damals war. Ganji war beteiligt an der Gründung der Pasdaran und Soroush Mitglied des Komitees, das für die Schließung der Universitäten im Namen einer »islamischen Kulturrevolution« verantwortlich war. Doch 1988 wurden mehrere tausend politische Häftlinge in den Gefängnissen ­ermordet. Montazeri kritisierte das Massaker, fortan galt er als politisch unzuverlässig, und nach dem Tod Khomeinis im folgenden Jahr wurde Ali Khamenei zum religiösen Führer ernannt.
Für Kadivar war 1988 das Jahr der Wende. Damals habe er geweint, sagte er. Als Montazeri 1997 unter Hausarrest gestellt wurde, setzte Kadivar sich für dessen Freilassung ein. Weil er in seinen Schriften die Legitimität der Herrschaft des religiösen Rechtsgelehrten in Frage gestellt hatte, wurde er 1999 zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Vor seinem Exil galt er als der schärfste geistliche Kritiker der velayat e-faqih im Iran.

Nach Kadivars Ansicht hat Gott das politische Ma­nagement an die Bevölkerung delegiert. Die Verfassung der Islamischen Republik Iran legt hingegen fest, dass das Volk im souveränen Akt der Revolution von 1979 die Herrschaft Gottes anerkannte und an den »religiösen Führer« delegierte, der sie bis zur Ankuft des Mahdis (des Erlösers) ausübt. Einen solchen Führer gab es im schiitischen Klerus bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 1979 nicht. Der Rang eines Ayatollahs im schiitischen Klerus entspricht in etwa dem eines katholischen Bischofs, es gab jedoch nie einen Papst. Vielen Geistlichen galt Khomeinis Lehre daher als pure Häresie. Sie schränkte die Autonomie der Ayatollahs ein, eben dies war das Ziel von Khomeini und Khamenei. Alle Geistlichen in den Dienst des Regimes zu stellen, ist jedoch, wie nicht zuletzt das Beispiel Montazeris beweist, nicht gelungen.
Derzeit bildet die Strömung, die Kadivar und Soroush repräsentieren, in der iranischen Politik »eine Art islamische CDU«, sagte im Gespräch mit der Jungle World Mehdi Haeri Korshidi, ein als wesentlich liberaler geltender, ebenfalls im US-Exil lebender Ayatollah. Sie seien konservativ. Soroush nennt als Ziel einen »post-religiösen, die Religion transzendierenden Staat«. Einen vollständig säkularen oder gar laizistischen Staat wünschen sie hingegen nicht. Solchen islamischen Reformern zufolge sollen Geistliche nur eine schlichtende Rolle in der Politik spielen, »sozusagen ein islamisches Bundesverfassungsgericht« bilden. Sie propagierten eine »minimalistische« Version des Islam, erläuterte ein Freund Soroushs. Der Klerus soll nicht mehr für alle Aspekte des täglichen Lebens zuständig sein, wie es in der »maximalistischen« Lehre vorgesehen sei.
Kadivar sagte bei einem Vortrag in den USA im Jahr 2002, die Demokratie sei »der am wenigsten fehlerhafte Zugang zu Politik – bitte notieren Sie, dass am wenigsten fehlerhaft nicht perfekt bedeutet oder gar fehlerfrei«. Die »iranische Form der Theokratie« bezeichnete er nach der Wahl­farce im Sommer 2009 als »gescheitert«, Ahmadinejad führe sich auf wie ein »iranischer Taliban«.

Der jüngst veröffentlichte Aufruf soll die gemäßigten Reformer vereinigen, von denen Kadivar behauptet, dass sie die Mehrheit der Opposition bilden. So sollen die Radikaleren, die lieber heute als morgen das gesamte System der Islamischen Republik abschaffen wollen, zur Mäßigung gezwungen werden. Die Härte der Auseinandersetzungen am 27. Dezember wurde von den Reformern offenbar nicht gewünscht, nun bemühen sie sich um Schadensbegrenzung.
Noch expliziter war in einem eigenen Aufruf der Mitunterzeichner Akbar Ganji, der vor einem »Ashura-Diskurs« innerhalb der Protestbewegung warnte, bei dem sich radikalere Protestierende mit dem Ideal des Märtyrertums und Khamenei mit dem Kalifen Yazid identifizieren, der für die Schiiten das Böse und die Ungerechtigkeit schlechthin verkörpert. Ob die Aufrufe zur Mäßigung erhört werden, wird sich schon bald erweisen. Die nächsten Massendemonstrationen werden im Februar erwartet.