Das Referendum gegen die Schulreform in Hamburg

Rettet das Gymnasium!

Die Hamburger Initiative »Wir wollen lernen!« kämpft mit allen Mitteln gegen die geplante Schulreform und längeres gemeinsames Lernen. Den bestehenden Zustand will nicht nur das Hamburger Bildungsbürgertum erhalten.

Im Sommer könnte man, wenn denn alles glatt geht, in Hamburg einen jubelnden Rechtsanwalt bewundern. Walter Scheuerl und seine Initiative »Wir wollen lernen!« haben mit knapp 170 000 Stimmen erreicht, dass die Hamburger Wähler im Sommer in einem Volksentscheid über die geplante Schulreform abstimmen dürfen. Wenn die Initiative erfolgreich ist, müsste der schwarz-grüne Senat sein schulpolitisches Programm grundlegend revidieren. Aus der Traum vom längeren gemeinsamen Lernen in der sechsjährigen Primarschule, alles beim Alten am Gymnasium. Für dieses Ziel sind der Initiative um den Rechtsanwalt Scheuerl alle Mittel recht. Vor einigen Wochen veröffentlichte die Initiative Lebensläufe von leitenden Beamten, die an der Reform beteiligt sind. Prompt titelte die Bild-Zeitung: »Ex-Kommunist soll Schul-Reform durchpauken«. Artikel, die sich kritisch mit der Schulpolitik in Hamburg auseinandersetzen, kursierten kurze Zeit später als Massenrundmail – verschickt von Scheuerl – an alle »Eltern, Großeltern, Schüler … «.

Was wie eine Bürgerinitiative mit einer großen Anhängerschaft daherkommt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Rebellion des konservativen Establishments für den Erhalt des Gymnasiums. »Es handelt sich bei der Initiative um einen Aufschrei des klassischen Bildungsbürgertums, das seine Pfründe in Gefahr sieht«, so der Erziehungswissenschaftler Ernst Rösner. Für den Dortmunder Wissenschaftler folgt die Argumentation der wohlhabenden Eltern dem Wunsch, das bestehende System zu erhalten, um die Karrierechancen der eigenen Kinder nicht zu gefährden. Denn die starke Selektivität des derzeitigen Schulwesens kommt vor allem den Kindern zugute, die das Gymnasium besuchen. Rösner empfindet diese frühe Selektion und das gegliederte Schulsystem als Hemmnis für die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen in Deutschland. »Es werden nur in 16 Ländern weltweit die Kinder so früh getrennt wie in Deutschland. 14 dieser Länder sind deutsche Bundesländer!« so der Bildungsforscher.
In der Tat ist Deutschland im internationalen Vergleich vor allem ein Meister in der frühen Aufteilung der Schüler. Bis in die sechziger Jahre entsprach die Dreigliederung des Schulsystems den ökonomischen Anforderungen der Gesellschaft. Die theoretischen Lerner gingen aufs Gymnasium und übernahmen danach leitende Funktionen, die theoretisch-praktischen Lerner auf die Realschule mit anschließender gehobener Ausbildung, und die praktischen Lerner gingen auf die Hauptschule. Sie stellten im Wesentlichen die Industriearbeiter oder ergriffen handwerkliche Ausbildungsberufe. Diese Realität hat sich in den vergangenen 20 Jahren extrem verändert. Für Hauptschüler gibt es immer weniger Ausbildungsberufe, sie werden im Sprachgebrauch der Kultusminister immer mehr zu »Problemschülern«. Knapp sieben Prozent aller Schüler brechen die Schule jedes Jahr ohne Abschluss ab, knapp eine halbe Million Arbeitslose warten ohne Schulabschluss auf einen Job.
An dieser Stelle wird das politische und ökonomische Interesse an weniger Schulabbrechern offensichtlich, denn es entstehen enorme Kosten. Hier zeichnen sich auch deutliche Brüche innerhalb der »Eliten« der Gesellschaft ab. Während konservative Bildungsbürger am liebsten alles beim Alten lassen wollen, fordern Wirtschaftsverbände, über das dreigliedrige Schulsystem nachzudenken. »Man kann nicht einfach eins zu eins eine Schablone auf die Konflikte legen. Es handelt sich vielmehr um vielschichtige Klassenauseinandersetzungen mit sehr unterschiedlichen Interessenlagen«, so der Darmstädter Professor Michael Hartmann. Während die Industrie, allen voran oft die Handwerkskammern, qualifizierte Absolventen wünscht, sehen die »Elite«-Eltern häufig nur die Chancen des eigenen Nachwuchses.

Nicht zuletzt durch den Pisa-Schock ist hierzulande Bewegung in die Schulpolitik gekommen. Landauf, landab werden beinahe täglich neue Konzepte vorgestellt. Fast überall wird ein längeres gemeinsames Lernen vorgeschlagen. Doch wie in Hamburg droht auch in den übrigen Bundesländern ein Aufschrei des Establishments, sobald es die Chancen des eigenen Nachwuchses in Gefahr sieht. Es gibt zwar Vorzeigeprojekte wie die Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, wo die Eltern des aufgeklärten, modernen Bürgertums Schlange stehen, um einen Platz zu ergattern. Bundesweit gilt jedoch nach wie vor das Gymnasium als erste Wahl. »Der Gedanke, dass man am Gymnasium in leistungshomogenen Klassen am besten lernt, ist in Deutschland tief verwurzelt«, stellt Michael Hartmann fest. Und der »Elitenforscher« gibt zu bedenken, dass die lukrativen Jobs in Deutschland immer rarer werden. »An dieser Stelle ist es eindeutig von Vorteil, wenn 60 Prozent der Mitbewerber um begehrte Studienplätze nach der Grundschule aus der Konkurrenz de facto ausgeschieden sind«, so Hartmann weiter. Die Angst vor dem sozialen Abstieg hat auch das Bildungsbürgertum erfasst. Und sie führt neben der Ablehnung grundlegender Reformen auch zu einem Run auf Privatschulen. Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamts besuchen bereits knapp acht Prozent der Schüler in Deutschland eine Privatschule. Experten sprechen von einer Flucht aus der Regelschule.
Der Abschied vom Gymnasium ist für Forscher wie Hartmann unter diesen Bedingungen geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Und er wird auch in keinem Bundesland ernsthaft diskutiert. In Bremen etwa kommt nach vier gemeinsamen Jahren an der Grundschule nur noch die Oberschule oder  das Gymnasium. Haupt- und Realschulen gehören der Vergangenheit an – das Gymnasium bleibt.
Vergleichbare Überlegungen gibt es in nahezu allen Ländern. Und noch eines eint die Bundesländer in ihren Reaktionen auf internationale Vergleichsstudien wie Pisa – in allen Konzepten werden die Elemente der »Qualitätssicherung« und der »Managerialisierung« als zentrale Steuerungs- und Kontrollinstrumente festgeschrieben. Schulleiter fungieren darin als »Manager« und sollen Führungsaufgaben übernehmen. Nur auf diese Weise – so die immer wiederkehrenden Argumente aus der Politik – lasse sich die Qualität der Schulen verbessern. Doch da die Instrumente aus der Wirtschaft stammen, sind sie nur bedingt für eine Verwendung in Bildungseinrichtungen geeignet. »Nur quantitativ, z.B. die Abschlüsse oder den Notendurchschnitt, zu erheben, sagt wenig über die Qualität von Schulen aus«, so Hartmann.

Während mehr und mehr Flipcharts an deutschen Schulen verwendet werden und immer größere Aktenberge aus »Leitbildern« und Evaluationsberichten entstehen, verengt sich der pädagogische Blick auf die Leistungsbereitschaft des Schülers. Die Ressource Humankapital soll in der Schule durch Zentralabitur, Profil-Oberstufe und Lernzielvereinbarungen »optimiert« werden.
Eines darf man letztlich bei allen Veränderungen nicht vergessen: Im Bereich der Bildungsfinanzierung liegt Deutschland weit unter dem internationalen Durchschnitt. »Mehr Bildung geht aber nicht bei gleichzeitiger Senkung der Unternehmenssteuern!« sagt Michael Hartmann.
So ist es nicht verwunderlich, dass der Hamburger Anwalt Scheuerl jedes geplante Sparvorhaben des Senats im Bereich der Bildungspolitik als Argument gegen die Schulreform verwendet. Sollte das Referendum in Hamburg erfolgreich sein, hätte dies eine bundesweite Signalwirkung. Das käme den Gymnasiumsbefürwortern zugute und würde wahrscheinlich für Jahrzehnte jeden schulpolitischen Fortschritt verhindern.