Fernando Ramos Arenas erklärt im Gespräch die Bedeutung des Begriffs »Interpassivität«

»Man nimmt Filme auf, um sie nicht zu sehen«

Mehr Filmminuten auf der Festplatte als verfügbare Restlebenszeit? Egal, sagt sich der postmoderne Cinephile. Hauptsache, man hat sie alle, vom Klassiker bis zum allerspeziellsten Splatterfilm. Spielt nach der digitalen Revolution das Filme-Ansehen in der Cinephilie überhaupt noch eine Rolle? Der Medienwissenschaftler Fernando Ramos Arenas (28), der an der Univer­sität Leipzig zu Medientheorie und Medienkultur, Medienkritik und Filmtheorie forscht, sprach im Februar auf der Leipziger Tagung »Wir sind nie aktiv gewesen« über den Zusammenhang von »Interpassivität« und »Filmleidenschaft«.

Sie sprechen von »Interpassivität« – was meinen Sie damit?
Bei der Interpassivität delegiert man den Genuss und andere Empfindungen. Das heißt, man gibt sie ab, entweder an andere Menschen oder an ein Objekt. In meinem Fall, also beim Cinephilen, ist es das Abgeben an Objekte oder Rituale.
Inwieweit bin ich denn »interpassiv«, wenn ich im Kino sitze?
Bei der postmodernen Cinephile geht es ja gar nicht mehr ums Kino, eigentlich auch nicht mehr ganz um den Film. Ich unterscheide drei Phasen der Cinephilie: zunächst die der klassischen Cinephilie, die in Frankreich in den fünfziger Jahren entstand. Dann die moderne Lust am Film, die sich in den sechziger und siebziger Jahren entwickelt hat und die mit ihrer Politisierung und Theoretisierung in Verbindung steht. Und dann die postmoderne Cinephilie. Die kam in meinen Augen Anfang der achtziger Jahre auf und steht in Verbindung mit der VHS-Kassette und einer neuen Form des Konsums.
Die Möglichkeit, Filme aufzuzeichnen, hat also zur »interpassiven Wende« geführt, von der sie sprechen?
Das würde ich sagen. Im Unterschied zu den früheren Formen der Cinephilie wurde es in der postmodernen Phase möglich, die Filme nicht einfach unmittelbar zu genießen, sondern einen Teil dieses Genusses zu delegieren. Als Anfang der fünfziger Jahre mit Zeitschriften wie den Cahiers du Cinéma in Paris die klassische Cinephile entstand, entwickelte sich rasch eine leidenschaftliche Debatte über das Kino als Lustobjekt. So kommt es zu einer Art Kanon. Man geht gemeinsam ins Kino und in dieser Nische entsteht eine öffentliche Debatte über die Filmkunst. In dieser Phase wechselten viele, die zunächst Filmkritiker waren – etwa Jean-Luc Godard und Eric Rohmer –, selbst in die Regie. In der modernen Phase sah sich der Zuschauer schon nicht mehr als zukünftiger Filmschaffender, sondern verstand sich in der Tradition des hoch ausgebildeten Filmgenießers. Und der postmoderne, interpassive Filmliebhaber ist dann zugleich Konsument und Sammler, der beim Sammeln eine neue Form des Genusses verspürt.
Ist damit der Studienrat mit Vorliebe für Sondereditionen gemeint oder der Nerd, der Filme aus dem Netz »saugt«?
Sowohl der eine als auch der andere. Wichtig ist, dass beide Idealtypen an den Punkt kommen, ihren Genuss am Filmschauen zu delegieren: Ob an die Sonderedition oder an die Festplatte, ist relativ unbedeutend. Hauptsache, es gibt da ein Objekt, das für sie das Filmeschauen erledigt.
Haben statt Schauen ist demzufolge das Merkmal der neuen Cinephilie?
Während die moderne Leidenschaft noch eine Fortsetzung der klassischen ist, stellt die postmoderne Variante eine ganz andere Auseinandersetzung mit dem Film dar. Das Kino hört auf, gesellschaftliche Praxis oder soziales Handeln zu sein, sondern wird rein individuell und privat. Man hat jetzt die Chance, sich die Filme zu Hause anzuschauen. Natürlich gibt es immer noch Kino, aber seine Rolle als kulturelle Praxis schwindet. Denn Cinephilie geht über die Filme hinaus und bezieht sich auch auf die sozialen und kulturellen Faktoren, welche die Filmproduktion, die Rezeption und die Debatten über Filme bestimmen. In diesem Sinne verstehe ich die postmoderne Cinephilie als eine wichtige Zäsur. Schließlich nimmt man Filme auf, um sie gar nicht mehr anzusehen. Und dieses Delegieren des Filmkonsums an das Aufnahmegerät kann man als interpassives Handeln ganz gut beschreiben. In dem Moment, in dem man sich nicht mehr als Subjekt seines Handelns sieht, sondern eine Rolle im Ritual übernimmt, delegiert man ein Stück seiner Verantwortung und auch einen Teil des Lustgenießens.
»Interpassives Handeln« klingt paradox.
Ja, der ganze Begriff Interpassivität steckt voller Paradoxien, was nicht unproduktiv sein muss. Wobei es sich bei der Interpassivität nicht um ein neues Phänomen handelt, es ist nur ein neues Wort für etwas, das immer schon da gewesen ist. Interpassivität schließt eben Aktivität und Passivität zugleich ein.
»Interaktivität« wird seit 50 Jahren diskutiert. Reagiert der Begriff Interpassivität auf die Überbetonung des ständigen Mitmachens?
Auf die Auseinandersetzung mit Film bezogen – auf jeden Fall. Mit der Kassette konnte man der Filme eben auch habhaft werden, was vorher ja nicht möglich war. Man konnte sie nur genießen – oder eben nicht. Heute nimmt man Filme auf, ohne sie gesehen haben zu müssen. Das ist wie bei den Bibliophilen, die Bücher sammeln und sie ins Regal stellen, ohne sie je zu lesen. Und die Filme im Regal sind dann eine Zurschaustellung bzw. die Inszenierung des eigenen Filmwissens. Haben die früheren Cinephilen Filme aus der direkten Lust am Film heraus geschaut, besteht hier der Genuss im Sammeln. Es ist eben ein delegierter, ein distanzierter Genuss. Es geht nicht mehr um die klassischen Merkmale des Genießens im Sinne des sich Verlierens und sich Vertiefens in den Film. Diese postmoderne Art des Zurücklehnens ist interpassives Genießen, als ob man sagen würde, die Filme hat meine Sammlung selbst gesehen.
Hat sich das durch die Digitalisierung, das Filme-aus-dem-Netz-»Saugen«, radikalisiert?
Im ritualisierten Filmschauen verschwindet langsam die Lust, bis man keine Lust mehr auf die Lust hat. Und dann vermittelt man diese an ein anderes Objekt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass, plakativ gesagt, ein Großteil der Filmliebhaber heute keine Lust mehr auf Filme hat. Aber sie fühlen sich selbst dazu gezwungen, weiter Filme zu schauen. Mit der Digitalisierung hat sich das interpassive Genießen auf jeden Fall beschleunigt. Filme sprechen immer öfter auf der Ebene des Sammelns an. Das ist eine Art Fetischismus. Ob diese Form des Distanzgenusses nur unter Leuten entsteht, bei denen eine klassische Cinephilie zugrunde liegt, also ob man erst das intensive Erlebnis gehabt haben muss, um delegieren zu können, ist leider noch nicht zu beantworten. So weit sind wir noch nicht, weil der klassische Filmdiskurs noch eine große Rolle spielt. Künftige Filmrituale sind vielleicht nicht so sehr oder anders am Fetisch orientiert. Vielleicht wird der Film als Fetischobjekt an sich immer unbedeutender, vielleicht wird wichtig, wie er angeschaut wird, also auf besonders schönen Bildschirmen oder in speziellen Heimkinos.
Ist diese neue Filmleidenschaft nicht einfach eine Konsequenz der Konsumgesellschaft?
Ja. Das sieht man schon daran, mit welchen Ex­tras heute DVD-Boxen aufgemacht werden. Schriftsteller werden immer vor einem Bücherregal gezeigt. Seit Video und DVD kann man auch Filme im Hintergrund zu stehen haben und sich durch ihre sorgfältige Zuschaustellung bestätigen lassen. Aber würde man Pornos so zur Schau stellen? Das täten wohl die wenigsten.