Rafael Menjivar Saavedra im Gespräch über die Jugendbanden in El Salvador

»Gerechtigkeit ist hier nicht vorgesehen«

Am 18. Mai findet in Madrid das sechste internationale Gipfeltreffen der Europäischen Union und der Länder Mittelamerikas statt. Dort soll ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und der zentralamerikanischen Freihandelszone Cafta beschlossen werden. Die sozialen Bewegungen Lateinamerikas protestieren gegen das Abkommen. Unter ihnen auch Rafael Menjivar Saavedra, der als Journalist und Geistlicher für die Öffentlichkeitsarbeit der Lutheranischen Kirche in El Salvador zuständig ist und die Kirche in verschiedenen Organisationen wie der Bewegung für Frieden und soziale Gerechtigkeit (Movimiento Popular por la Paz y la Justicia Social) vertritt.

Mitte Mai soll das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Staaten Mittelamerikas in Madrid unterzeichnet werden. Was halten Sie von diesem Abkommen?
Nichts, denn wir befinden uns heute schon in quasi neokolonialen Abhängigkeitsverhältnissen, und dieser Vertrag wird das weiter zementieren, Dabei gibt es starken Widerstand gegen die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens.
Demzufolge sind die Verhandlungen nicht in Abstimmung mit der Bevölkerung erfolgt?
Nein, natürlich nicht. Die Regierung El Salvadors ist sehr ängstlich und macht sich Sorgen um das Image des Landes als Wirtschaftsstandort. Dem gegenüber steht die soziale Bewegung in El Salvador, die in den vergangenen Jahren erstarkt ist und deutlich aktiver ist als früher. Sie bezieht Position gegen den Neoliberalismus. Ein Beispiel ist der Widerstand gegen das kanadische Bergbauunternehmen Pacific Rim, das in El Salvador Ressourcen abbaut, womit zahlreiche Probleme verbunden sind. Das Unternehmen zahlt keine Steuern, obwohl es nach Gold und Silber schürft. Zudem ist in der betreffenden Region das Wasser sehr knapp und das Trinkwasser verschmutzt – beides hängt mit den Bergbauaktivitäten dort zusammen. Im Widerstand gegen dieses Unternehmen sind bisher vier Menschen ums Leben gekommen.
Ein anderes Problem sind die Staudämme, die in El Salvador gegen den Widerstand der Bevölkerung entstehen sollen – die Dämme bedrohen ganze Dörfer und das Leben vieler Familien. Da diese Projekte auf der Grundlage von internationalen Verträgen verwirklicht werden sollen, ist es schwierig für die Regierung, einfach von dem Geschäft zurückzutreten. Die Verträge sehen auch Konventionalstrafen vor, und so versucht Pacific Rim eine Vertragsstrafe von 100 Millionen US-Dollar geltend zu machen, weil es einen Monat nicht schürfen konnte – aufgrund von Protesten.
Hierzulande hört man davon kaum etwas. Aus El Salvador hört man nur von den Jugendbanden, den Maras, und von der Auswanderung in die USA.
Die Maras sind ein gravierendes Problem unseres Landes, und sie sind eine Herausforderung für unsere Gesellschaft – auch wenn sie in den USA entstanden. Diese Jugendbanden sind ein Effekt der Migration, die unsere Gesellschaft prägt. Während die Mara »MS-13« in Los Angeles entstand, wurde die Mara »18« in New York gegründet. Zu Beginn waren es Jugendliche, die sich zusammenschlossen, um sich zu verteidigen – gegen andere Gangs von Jugendlichen aus Mexiko und anderen Ländern. Sie haben Strukturen aufgebaut, die Banden wurden größer und schließlich wurden sie in den USA kriminalisiert. Dann wurden viele nach El Salvador gebracht, und heute sind es um die 40 000 Jugendliche, die in den Bandenstrukturen stecken – vielleicht auch mehr, denn die Situation in El Salvador ist prekär.
Auch oder gerade für Jugendliche?
Grundsätzlich sind die Jugendlichen Opfer fehlender Perspektiven und der Verhältnisse in unserem Land. Die Banden, die Maras, kooperieren heute zumindest teilweise mit der organisierten Kriminalität, manchmal in irgendeinem Auftrag, manchmal auf eigene Rechnung. Es gibt Kinder, die im Alter von 13 Jahren Massaker verüben. Darüber hinaus beunruhigt uns, dass es zahlreiche Morde gibt, die im Stile der Todesschwadronen verübt werden. Warum ist das so? Die damaligen Kommandos waren ultrakonservativ, oft waren viele Soldaten darunter, die von den USA an der »School of the Americas« ausgebildet wurden. Wer steckt also dahinter? Ein neues Phänomen ist auch die Erpressung von Schutzgeldern durch die Maras. Ein Café wie dieses, in dem wir hier sitzen, müsste in meinem Land rund 100 US-Dollar pro Monat zahlen, aber oft rufen die Maras auch an und erpressen Unternehmer – »Zahlen oder Tod« lautet das Motto. Dabei werden Summen zwischen 1 000 und 15 000 US-Dollar verlangt. Je nachdem, wie sie Deinen Wert einschätzen. Nicht nur für eine arme Gesellschaft sind das extreme Herausforderungen.
Gibt es Konzepte für die Reintegration dieser Jugendlichen?
Es gibt Kirchenorganisationen wie die unsere, die präventiv tätig sind, indem sie Jugendlichen etwas bieten. Denn die Banden sind attraktiv, weil sie eben etwas zu bieten haben. In der Öffentlichkeit wird jedoch zumeist nur über repressive Instrumente gesprochen, eine echte Auseinandersetzung über die Hintergründe der Bandenkriminalität gibt es nicht. Angesichts des Chaos, in dem wir mittlerweile leben, fordern nun viele Organisationen eine harte Herangehensweise – da­zu gehören auch eine Absenkung der Altersgrenze für die Strafmündigkeit und längere Haftstrafen für Jugendliche. So soll die höchstmögliche Jugendhaftstrafe von sieben auf 15 Jahre angehoben werden und mehr. Bisher galt man in El Salvador mit 21 Jahren als voll strafmündig, das soll nun auf 16 Jahre abgesenkt werden. 16jährige können dann zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt werden.
Und dafür gibt es Mehrheiten?
Ich denke schon.
Gibt es auch alternative Ansätze von Seiten der Regierung?
Ja, es gibt staatliche Organisationen, die eine andere Strategie verfolgen, aber die Situation ist sehr angespannt, denn wir haben jeden Tag zwischen zwölf und 15 Tote zu beklagen. Und die Banden sind skrupellos, die tätowieren auch schon mal Jugendliche, die nicht bei ihnen Mitglieder sind, mit ihrem Schriftzug mitten im Gesicht. Die Betroffenen können dann wie Aussätzige kaum ihr Stadtviertel verlassen. Das Risiko, von konkurrierenden Banden ermordet zu werden, ist hoch.
Werden die Täter nicht bestraft?
Die sogenannte Straflosigkeit hat eine große Bedeutung, sie ist ein Alltagsphänomen. Kaum einer der alltäglichen Morde wird aufgeklärt und geahndet. Natürlich bräuchte man mehr Ermittler, aber es gibt auch viele Fälle, bei denen die Täter bekannt sind, Fälle, bei denen man weiß, in welchem Auto sie geflüchtet sind. Und trotzdem gibt es keinen Prozess, kein Urteil – nichts. Der Mord am Erzbischof Óscar Arnulfo Romero ist dafür ein gutes Beispiel – der Täter ist bekannt, und der Mord ist auch 30 Jahre später nicht gesühnt. Gerechtigkeit ist in El Salvador nicht unbedingt vorgesehen.