Über die Ideologisierung der Kindheit

Ein Zimmer für sich allein

Kleine Elegie auf die bürgerliche Kindheit.

So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.
Walter Benjamin

I.
Der Fall Klaus Rainer Röhl ist ein Produkt urdeutscher Familienbande. Wenn die von seiner Tochter erhobenen Missbrauchsvorwürfe zutreffen, reicht die biografische Vorgeschichte in die fünfziger Jahre zurück, und Röhl wäre einfach schon damals derselbe abstoßende Typ gewesen, der er auch später war. Dass er seine Zeit bei Konkret genutzt hat, um das Magazin in eine linksspießige Sexpostille zu verwandeln, läge ganz auf der Linie seines früheren Sozialverhaltens. Es wäre kein Indiz für den Zusammenhang zwischen sexueller Libertinage und familiärer Verwahrlosung, sondern dafür, dass vieles von dem, was hierzulande für sexuelle Libertinage gehalten wurde, nichts als Altherrenphantasien waren, deren Copyright Quick und Neue Revue innehatten, bevor Röhl sie linksdeutscher Selbsterfahrung zugänglich machte.
Der Geifer, mit dem nun ausgerechnet Röhl als vermeintlicher Exponent der Achtundsechziger für die Zügellosigkeit der Moderne abgestraft wird, sollte allerdings nicht dazu verleiten, ihn als verkappten Bürger entlarven zu wollen. Bürger gehen mit ihren Familienangehörigen besser um.

II.
Die »Befreiung« der Kindheit war der antiautoritären Bewegung ebenso Herzensanliegen wie die Befreiung der Frauen, der Homosexuellen oder der Kolonisierten. Anders als jene Gruppen aber sind Kinder nicht ohne weiteres imstande, ihre Rechte und Freiheiten selbst einzuklagen. Deshalb sind Spekulationen darüber, was denn für Kinder gut wäre, fester Bestandteil regressiver Befreiungsphantasien. Das Kind wird als der bessere Mensch vorgestellt, weil es sich dem Erwachsenen als Tabula rasa darbietet. Im Gegensatz zu den Erwachsenen, von denen jeder seine eigene Geschichte, eigene Deformationen, Vorlieben und Vorurteile hat – gerade diese Idiosynkrasien machen aus, was sich Charakter nennt und immer ein wenig mehr als nur Maske ist –, kann aus Kindern, wie die beliebte Formel lautet, noch etwas werden: Das Kind ist das Werdende, der Erwachsene das Seiende. Was wird, lässt sich noch formen, mit dem, was ist, muss man sich abfinden. Deswegen erscheinen Kinder den Erwachsenen als die Zukunft, um die sie sich selbst gebracht, als das Versprechen, das sie selbst gebrochen haben. Die Kinder sollen einlösen, worauf die Erwachsenen aus Gründen des Selbsterhalts und der resignativen Gewöhnung ans Faktische verzichten mussten. Dieser hypertrophe Wunsch tarnt sich gern als Selbstlosigkeit. Unsere Kinder, heißt es dann, sollen es besser haben. Oder eben als emanzipatorische Ansage: Nehmt Euch, was Euch gehört, damit Ihr einmal freier leben könnt als wir.
An sich selbst hassen die Erwachsenen insgeheim alles Fertige, Geronnene, die eigenen Borniertheiten und Gewohnheiten, ja selbst die eigenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen, weil diese in Wahrheit nicht sind, was sie sein sollten, weil sie keine glückliche Vollendung, sondern ein Misslingen besiegeln, weil im eigenen Leben nie etwas ans Ziel gekommen ist, sondern alles stets auf halbem Wege stecken blieb. Die Kinder dagegen haben, wie das so heißt, noch ihr ganzes Leben vor sich. Das Leben wird gedacht als Proviant, den man zur Hälfte aufgebraucht hat, ohne sich daran zu erfreuen, während die Kinder gerade erst davon gekostet haben. Die Eltern empfehlen ihrem Nachwuchs, es sich besser schmecken zu lassen und stellvertretend für die Erwachsenen das nie gelebte Leben zu leben, dem diese nachtrauern.

III.
Aber um einstehen zu können für das, was die Erwachsenen sich versagen, dürfen die Kinder nicht selbst schon erwachsen sein. Sie müssen die leere Fläche bleiben, auf die sich der erwachsene Wunsch projizieren kann. Auch die Erwachsenen dürfen im Namen ihres Selbsterhalts nicht wie Kinder sein. Ihr Verhältnis zur Kindheit ist sentimental, sie betrauern in deren Vergänglichkeit etwas, das sie empirisch nie erfahren haben. Glückliche Kindheiten gibt es nur in der Erinnerung, glückliches Erwachsensein nur als kindliche Sehnsucht. Wer noch Kind ist und sich als Kind zu reflektieren beginnt, will so schnell wie möglich raus aus diesem Gefängnis. Wer sich keine Illusionen mehr darüber macht, dass er erwachsen ist, wünscht sich panisch zurück in eine Kindheit, die es nie gegeben hat. Weil jede Erinnerung an diesen wechselseitigen Betrug, den Erwachsene und Kinder aneinander begehen, den gesellschaftlichen Scheinzusammenhang zu zerreißen droht, gelten Grenzüberschreitungen zwischen Kindern und Erwachsenen als unbotmäßig – erst recht, wenn sie jene Sphäre betreffen, die insgeheim als Quelle allen Glücks erkannt wird, die Sexualität. Der Begriff des Missbrauchs drückt dies aus: Kinder, so legt er nahe, solle man bitte anständig gebrauchen, jeder unanständige Gebrauch müsse geahndet werden. Deshalb geht es, wo der Missbrauch zum Diskursthema avanciert, nicht um die Forderung nach Anerkennung des Kindes als autonome Rechtsperson, sondern um die Reinhaltung des erwachsenen Bildes vom Kind als Phantasiebehälter, das der Selbstwahrnehmung des Erwachsenen als Arbeitskraftbehälter entspricht.
Der Erwachsene muss sich abrackern, das Kind darf träumen. Der Erwachsene darf sich keine Blöße geben, Kinder dürfen weinen, ohne bestraft zu werden. Das Kind vermag sich schamlos und ohne Umwege jene Lüste zu verschaffen, für deren Genuss dem Erwachsenen Geduld und Zartgefühl, Angst und Leiden abverlangt werden. Daher kommen Bilder von Kinderarbeit bei Berufshumanisten so gut an, daher lässt sich toten Kindern in jedem Krieg ein moralischer Mehrwert zur Diskreditierung des Feindes abgewinnen, daher gelten den Antisemiten die Juden als Kindermörder. Und daher muss jeder, der des Kindesmissbrauchs auch nur bezichtigt wird, mit dem sozialen Tod rechnen, während vergewaltigte Frauen kaum einen Journalisten hinter dem Schreibtisch hervorlocken. Weil das Kind mehr Mensch ist als der Erwachsene, der insgeheim weiß, dass er sein Erwachsensein mit der Preisgabe seines Menschseins erkauft, gelten Verbrechen an Kindern als die einzig wahren Verbrechen gegen die Menschheit.

IV.
Doch die Vorstellung vom Kind als eigentlichem Menschen ist nicht nur Ideologie. Zwar war sie die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft hindurch entlastendes Gegenbild einer paradoxen Leistungsethik, in deren Namen die Bürger sich verbaten, den von ihnen produzierten Überfluss zu genießen oder ihn gar als allgemeinen einzufordern. Und in einer Zeit, da die Frau als Statthalterin der Empfindsamkeit und heimeliges Komplement zum erwerbstätigen Mann zunehmend ausfällt, weil sie selbst als Leistungsträgerin gesetzt ist, nimmt die Fetischisierung des Kindes immer irrsinnigere Züge an, weil alle Entlastungsphantasien, die zuvor der Frau aufgebürdet wurden, sich auf das Kind fixieren. Aber in dem Maße, in dem die bürgerliche Ikonografie der Kindheit und die Verkehrsformen der bürgerlichen Familie erodieren, wird das Kind umso unmittelbarer der Zurichtung durchs Kollektiv ausgeliefert, vor der das Kinderzimmer es immer auch geschützt hat. Kaum ein Klischee antiautoritärer Erziehung ist so schal wie die Denunziation des bürgerlichen Kinderzimmers als Gefängnis. In vorbürgerlichen Zeiten war das Kind nichts als ein kleiner Erwachsener, eine notwendige, wenngleich wenig leistungsfähige Arbeitskraft im großfamiliären Lebens- und Produktionszusammenhang. Erst das Bürgertum hat Kindheit als Sphäre potentieller Zweckfreiheit gesetzt. Ein Zimmer für sich allein zu haben, bedeutete dem Kind zuallererst nicht Gefangenschaft, sondern Freiheit zur Individua­lität. Wer keine Tür hat, die er hinter sich zumachen kann, um sich für die nächsten Stunden jede Störung zu verbitten, bleibt immer das Gattungswesen, zu dem tendenziell jede Familie jedes ihrer Mitglieder degradiert. Dem Kind ein eigenes Zimmer zuzugestehen, bedeutet, ihm einen intimen Bereich zu schaffen, der es ihm innerhalb des Familienverbandes erlaubt, das Dasein als Gattungswesen zu überschreiten.
Die Kinderszenen in den Texten Walter Benjamins halten diese Erfahrung fest. Ihr Milieu ist ein schon als vergangen erkanntes bürgerliches Interieur, aus dessen Bildern, Gesten, Tönen und Gerüchen dem Kind eine Welt erwächst, die über die enge Empirie hinausweist, der sie sich verdankt. Das profane Allerlei des bürgerlichen Hauses wird geheimnisvoll, die Kinderhand tastet in den vertrauten Kämmerchen nach Süßigkeiten wie Don Juan nach der Geliebten, Schulbücher figurieren als Traumbücher und das einsame Lesen als heimlich genossene körperliche Lust. Das bürgerliche Spielzeug schleift seine Ideologien bei Benjamin nur noch wie verblichenes Ornament mit, weil die Phantasie, die sich an ihm entzündet, jeden ideologischen Schein überstrahlt. Kein Kind, das mit Zinnsoldaten spielt, wird deshalb zum Militaristen, denn es sieht in ihnen nicht die Soldaten, sondern den Zinn. Die ideologiekritische Pädagogik der sechziger und siebziger Jahre, die nicht zufällig um Benjamin einen großen Bogen macht, bearbeitet nichts als die didaktisierte Oberfläche einer Kindheitserfahrung, die zur Erfahrung nur dadurch werden konnte, dass sie die Gegenstände mit affektiven Gehalten besetzt, die über das Milieu, dem sie entstammen, hinauswollen. Voraussetzung dafür aber ist die Fähigkeit des Kindes, allein zu sein, in der die Fähigkeit zur Freiheit entspringt. Alle Kinder bei Benjamin sind allein, aber ihr Alleinsein ist Erfüllung, nicht Beraubung. Das einsame Spiel, das einsame Lesen als Urszenen kindlicher Absonderung sprengen die bürgerliche Lebenswelt, in der allein sie möglich wurden.

V.
Die antiautoritäre Pädagogik hat die bürgerliche Kleinfamilie als Keimzelle des autoritären Charakters bekämpft, ohne in der Individualität des Kindes, die sich in ihr entwickeln konnte, die Keimzelle des Widerstandes zu erkennen. Deshalb sind Kinder in linken Kinderbüchern nie allein, sondern in Banden organisiert. Die progressive Kinderbande entkommt dem Zwangsverband der Familie nur, um dem Kind die wie immer auch rudimentäre Individualität, die in jenem Zwangsverband entwickelt werden konnte, im Namen des Kollektivs zu verbieten, das die überkommene Großfamilie ersetzen soll und in dem es so wenig Privatheit gibt wie in jener. Die linke Pädagogik hat den Kinderbüchern den bei Benjamin nachklingenden Zauber genommen, indem sie sie »kindgerecht« machte, das Spielzeug spieluntauglich gemacht, indem sie ihm »progressive Zwecke« unterschob und alle Ornamente versachlichte, und damit bewusstlos jenen zivilgesellschaftlichen Imperativ vorbereitet, in dessen Namen heute Bildungspolitiker aller Couleur erklären, kein einziges Kind dürfe »verloren« gegeben werden. Der Kindesmissbrauch wird aus solcher Perspektive nicht etwa deshalb zum kollektiven Angstbild, weil er sich an der Würde des Kindes und damit an dessen Individualität vergeht, sondern weil er das Recht der Gemeinschaft am Kind verletzt, das von der Kleinfamilie und ihren spätbürgerlichen Substituten exekutiert werden soll. Der Täter gilt nicht als böse, weil er dem Kind dessen Leben raubt, sondern weil er, wie offen ausgeplaudert wird, »uns unsere Kinder nimmt«. Nicht als Verbrecher an der Individualität will man ihn bestraft sehen, sondern als Gemeinschaftsschädling, gegen den sich die Zivilgesellschaft einig ist: Niemand darf missbraucht werden, denn jeder wird gebraucht.