Über die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko

Black Water Horizon

Der Historiker und Herzenssozialist Jules Michelet unterschied im 19. Jahrhundert zwei Epochen der Barbarei gegen das Meer. Die Havarie der Bohrinsel »Deepwater Horizon« im Golf von Mexiko ist symptomatisch für die dritte.

Man kann die Havarie der Bohrinsel »Deepwater Horizon« im Golf von Mexiko, in deren Folge täglich etwa zwischen 1 600 und 3 400 Tonnen Rohöl ins Meer fließen, als den bisherigen Höhepunkt des dritten Zeitalters der Barbarei gegen das Meer ansehen. Den Beginn des dritten Zeitalters dieser Barbarei kann man in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg datieren. Damals begann man mit großen Schiffen, bis zu 30 000 Tonnen schwer, mit elektrischen Maschinen, Kanonen, Granaten, Flugzeugen und Funkgeräten ausgerüstet, den Walen bis ins Eismeer hinterherzufahren, um sie zu schlachten. Ein Angriff, gegen den die Tiere keine Chance hatten, so dass sie ganz zu verschwinden drohten.
In den Jahren 1937 und 1938 kam es schließlich in London zu einer internationalen Vereinbarung, die dem Fang ein paar Regeln auferlegte und somit den Tieren zumindest bis heute den Bestand sicherte. Das mittlerweile auf fast alle Industrienationen ausgedehnte Walfangverbot wurde dabei wesentlich von den USA vorangetrieben. Die amerikanischen Walschützer konnten sich in ihrem Kampf der Unterstützung ihrer Regierung sicher sein, die alles tat, auch im eigenen Land den kommerziellen Walfang zu unterbinden. Daraus erwuchs auch im Golf von Mexiko eine kleine Industrie der tatsächlich sanften Walbeobachtung. Ohne die Tiere anzufüttern, um mit ihnen zu schwimmen oder sonstwie zu interagieren, fuhr man in kleinen Booten aufs Meer und konnte ihnen zusehen – oder eben auch nicht. Ganz nach der Laune der Tiere.

Diese Form des Umgangs mit der Natur hat an der gesamten amerikanischen Golfküste von Texas bis Florida eine Kultur hervorgebracht, die von amtlichen und ehrenamtlichen Naturschützern, profitorientierten wie Non-Profit-Unternehmen betrieben wurde und sich um Schmetterlinge, Reptilien und Vögel genauso kümmerte wie um Wale. Das war keine boomende Branche, aber es war etwas anderes als das in der Moderne zur Herrschaft gelangte ökonomische Denken, das sich die objektive Welt, und damit auch die Natur, nur als Objekt zum möglichen Gebrauch vorzustellen vermochte.
Mit den Bildern von den an ihren ölverklebten Federn sterbenden Pelikanen, den Nachrichten von den ersten toten Walen im Golf und dem Eindringen der roten Ölschlieren in die Marschen Lousianas ist in diese Welt, die nie eine Idylle war, die Brutalität des ökonomischen Kalküls unübersehbar eingebrochen. Dass Wasser und Land, Erde und Luft der ökonomischen Vernunft nie etwas anderes waren und sind als ein riesiges Reservoir, das man in Kapital verwandeln soll, ist dabei keine neue Erkenntnis. Neu ist einzig die Dimension der Zerstörung des Meeres im Golf. Neu ist auch die Dimension der Hilflosigkeit von Technologie und Wissenschaft angesichts eines unverschlossenen Bohrlochs am Meeresgrund. Wer bisher dachte, dass der Aufstieg von Wissenschaft und Technologie ja auch deshalb mit dem Einstieg ins Zeitalter der ökonomischen Vernunft zusammen fällt, um mit deren Macht die Herrschaft über die Natur zu sichern, kann sich anhand des ausfließenden Öls eines Besseren belehren lassen.

Das Zusammenspiel von Wissenschaft, Technologie und Ökonomie hat ja tatsächlich schon surrealistische Qualitäten erreicht – wie sie sich André Breton oder Luis Buñuel mit Sicherheit noch nicht haben träumen lassen –, wenn die Meldungen von den misslingenden Bohrlochstopfungen mit der Meldung von Craig Venters am Computer erfundenem Bakterium zusammenfallen. Wenn die Machbarkeit der Biotechnologie tatsächlich so weit geht, wie Venter behauptet, warum wird dann der Ölteppich im Golf mit einer ganz konventionellen Chemikalie – Corexit – bekämpft und nicht mit biotechnologisch hergestellten ölzersetzenden Mikroorganismen, deren Umweltverträglichkeit wissenschaftlich gesichert ist? Die Frage ist nicht naiv, sondern berechtigt, die Antwort allerdings erschütternd: Weil sie alle, Wissenschaftler, Technologen wie Ökonomen nicht wissen, was sie da im Golf tun. Für die Ökonomen von BP muss man hier allerdings eine Ausnahme machen: Sie wissen durchaus, was sie tun, nämlich sehr viel Geld verdienen, und daran wird die Katatstrophe in diesem Fall nichts ändern, auch wenn die US-Regierung gerade meint, eine Krise bei BP feststellen zu können. BP geht es blendend, und nach dem ökonomischen Kalkül machen sie auch alles richtig. Sie achten zuerst auf ihren Profit, und der ist mit einem Gewinn von 5,6 Milliarden Dollar im ersten Quartal dieses Jahres so hoch, dass man sich das Geld für den »Unfall« im Golf schon leisten kann. Anders sieht das aber bei den Wissenschaftlern und Technologen aus, weil die zumindest ideell noch andere Kalküle für ihre Problemlösungen heranziehen müssen als ökonomische.
Wobei Venters biotechnologischer Machbarkeitsmachismus immer mehr an Stalins Genetiker Trofim Denissowitsch Lyssenko erinnert. Lyssenkos Versprechen, für jedes Klima den richtigen Samen liefern zu können, ist strukturidentisch mit Venters Versprechen, für alte, kranke Zellen neue, frische und gesunde Materialien schaffen zu können. Die praktische Absurdität einer Forschungspolitik, die Milliarden in Technologien investiert, die andauernd ihre Anwendbarkeit im Reich des Imginären durchspielt und dann, vor ein wirk­liches Problem gestellt, nicht einmal Aussagen über die Strömungsverhältnisse in der Tiefsee machen kann, ist evident. Meeresbiologen weisen seit Jahren daraufhin, dass die Kenntnisse über die Tiefsee nicht ausreichen, um dort unten in dem Umfang nach Rohstoffen zu bohren, wie es zurzeit geschieht. Eine vernünftige Gefahrenabschätzung und eine eventuelle Vorbeugung sind bei dem jetzigen Wissensstand unmöglich. Geld bekommen die Warner dafür keines, und Ruhm wie Venter oder irgendein Stammzellforscher auch nicht. Jubeltexte über die Unwissenheit über die Tiefen der Meere lassen sich allerdings auch schlecht verkaufen.

Die Ausbeutung der Meere ohne Fundierung durch entsprechendes Wissen hat eine lange Tradition. Der Historiker des Meeres, Jules Michelet, unterschied, als er 1861 seine naturphilosophische Studie zum Meer, im Original »La Mer«, veröffentlichte, zwei Zeitalter der Barbarei gegen das Meer. Im ersten blieb der Zugriff auf das Meer an der Oberfläche: Man überquerte es nur, um fabelhafte oder irrwitzig aufgebauschte Schätze zu entdecken. Im zweiten Zeitalter fand man schließlich heraus, dass der Reichtum des Meeres in ihm selbst zu finden ist, und nahm es in Besitz. Das tat man aber auf eine »blinde, brutale, gewalttätige Weise«, wie Michelet schreibt. Verantwortlich dafür ist in den Augen des Herzenssozialisten Michelet die »kaufmännische, industrielle Gier«.
Im jetzigen, dem dritten Zeitalter der Barbarei gegen das Meer versucht die wirtschaftliche Vernunft – Georg Seeßlen hat es in der vorigen Ausgabe der Jungle World hinreichend beschrieben –, nun aber auch noch den letzten Winkel der objektiven Welt ihrem Kalkül zu unterwerfen. Die interesselose Schau des Naturschönen, der Michelet, noch am Strand stehend, frönen konnte, nervt da natürlich nur. Derzeit vor allem Barack Obama. Michelets Meeresstudie kann nämlich mit einigen anderen Werken der naturphilosophischen Literatur des 19. Jahrhunderts, die in der Mehrzahl in den USA entstanden, als Beginn der Ökologiebewegung gelten. In den USA wohnte ökologischen Denkströmungen immer auch ein anarchistisches Element inne, und das bricht jetzt wieder auf. Das Öl im Golf ist dafür nur ein weiteres Movens. Es ist in Amerika Naturschützern, Ökologen und Umweltaktivisten von Anfang an nicht verborgen geblieben, dass Obamas Ölpolitik bruch- und reibungslos die Politik der Bush-Administration fortgesetzt hat. Obama hat sie insofern noch forciert, als er den Ölgesellschaften ein neues Umweltgesetz auf den Leib schrieb und Bohrlizenzen selbst für ökologisch hochkritische Gebiete im Eis im Norden Alaskas freigab. Dass er jetzt mitteilt, die Lizenzen erstmal auf Eis legen und sein Umweltgesetz überarbeiten zu wollen, hat mehr mit der Angst vor dem wachsenden Einfluss der außerparlamentarischen Kräfte zu tun, die sich explizit gegen das bestehenden Parteiensystem wenden, als mit der Katastrophe selbst.
Das zivilisatorische Element, so klein es derzeit auch ist, geht im Falle der Regionen am Golf von Mexiko also weder vom Staat noch von der Industrie oder den herrschenden wissenschaftlichen Denkformen aus, sondern von Walschauern, Birdwatchern und Schmetterlingszählern. Dass sie BP und Konsorten damit am Geldverdienen und an der weiteren Ausdehnung des ökomischen Kalküls, demnächst auch ins Eis vor Alaska, nachhaltig behindern, soll damit allerdings nicht behauptet werden. Es soll nur der Hinweis gegeben werden, dass der Ausweg aus der Barbarei, wenn es ums Meer geht, zurzeit weder von der Politik noch von der Wissenschaft zu erwarten ist. Das Meer kann man nicht besitzen, man kann es durch das Recht auf Besitz nur zerstören.