Über Jens Harders Comic »Alpha...directions«

Vor uns die Sintflut

Vom Urknall zum Riesenhirsch: Jens Harder erzählt in seinem Comic »Alpha … directions« die längste Geschichte der Welt.

Der Band erinnert schon rein äußerlich nicht an einen Comic. Eher an den dicken Geo-Atlas aus der Schulzeit. Comics sind normalerweise auch nicht mit Weltwissen vollgestopft. Dieser, 350 großformatige Seiten umfassende schon. Was der chronologisch aufgebaute, seine Zeit­abfolge immer wieder durch Querverweise, Zitate, Vor- und Rückblenden durchbrechende Comic erzählt, ist dann aber auch nicht weniger als die längste Geschichte der Welt. Von solchen Montagetechniken mal abgesehen, hat Jens Harders Evolutions-Comic »Alpha … directions« mit der postmodernen Erzählungen jedoch nicht viel zu tun.
Es beginnt mit dem Urknall. Auf der ersten Seite ein winziger roter Punkt in der Größe eines Sandkorns. Der auf der nächsten Seite schon groß wie ein Konfettischnipsel ist. Und mit jeder Seite, die man umschlägt, wächst und bald eine Doppelseite ausfüllt. Und dann Knitterfalten bekommt und bald rotiert wie eine Schallplatte. Ein gigantischer Strudel aus Bildern und Zeichen aus allen kulturellen Epochen rauscht vorbei, bevor die Erzählerstimme zum ersten Mal einsetzt und erklärt: »Zu Beginn existiert nur ein Keim, die Singularität.« Man befindet sich also gerade mal am Anfang der Geschichte.
Vierzehn Milliarden Jahre Evolutionsgeschichte – angefangen beim Urknall über die Erdfrühzeit mit ihren lediglich aus Pilzen und Hohltieren bestehenden Bewohnern, vorbei an den das Jurazeitalter beherrschenden Sauriern hin zu den Wollnashörnern, Riesenhirschen und den Menschenaffen – werden in einer überbordenden Bildfolge mit einem Minimum an Text dargestellt. In die Evolutionserzählung integriert sind bildliche Verweise auf Fachliteratur, Schöpfungsmythen, Kulturgeschichte und manchmal auch auf die Comics des Zeichners selbst. Monumental, schwindelerregend.
Eigentlich leben Comics nun mal von ihren Figuren, deren oft merkwürdiges Eigenleben das Comic-Universum überhaupt erst erschafft, wie im Fall von Donald, Spidermen oder Asterix. Im Evolutions-Comic »Alpha« muss man viele Eiszeiten überstehen, Milchstraßen durchqueren, bis irgendwann mal die ersten Krabbler, etwa in der Mitte des Buches, im »Paläozoikum«, auch Erdfrühzeit genannt, durchs Bild laufen. Manche Panels und Einzelbilder wirken plastisch, gigantisch und ganz und gar beeindruckend wie die Zeichnungen der Riesenmammuts, die über eine ganze Doppelseite hinwegmarschieren, während andere Exemplare der Gattung einfach nur entspannt in den rie­sigen Wäldern herumstehen. Andere Zeichnungen sind so magisch, geheimnisvoll und surreal wie ein Bild von Ma­gritte. Die im Ka­pitel »Kryptozoikum« gezeichneten Quallentiere schaukeln in einem Meer aus Violett dahin, und der Text dazu klingt wie Konkrete Poesie: »Die Urmollusken lassen allen Ballast hinter sich und versuchen sich erfolgreich in transparenter Schwerelosigkeit.« Man muss keinen Bio-Leistungskurs absolviert haben, um hingerissen zu sein von diesem Buch über die Entstehung der Welt.
Seine Wurzeln hat der Berliner Zeichner Jens Harder nicht im klassischen US-amerikanischen Comic, Superman, Spiderman, X-Men sind alle an ihm vorbeigegangen. Harder, 1974 im sächsischen Weißwasser geboren, ist vor allem mit ­illustrierten Kinderbuchklassikern wie »Tom Sawyer«, »Struwwelpeter«, »Schatzinsel«, »Till Eulenspiegel« groß geworden. Und das merkt man. Wegen der Detailfülle und Präzision er­innert sein Comic-Stil dann auch eher an die naturkundlichen Zeichnungen des 19. Jahrhunderts. Da wird jeder Wirbel im Dino-Skelett liebevoll dokumentiert, jede Windung in der Wohnröhre der riesigen Cephalopoden ausgemalt, und man kann genau mitverfolgen, wie die Fische erst Kiefermünder ausbilden und dann Zähnchen kriegen.
Der Titel »Alpha« deutet es an: Die Evolution ist mit diesem Buch noch längst nicht komplett. Der Band »Alpha … directions«, der, bevor er hierzulande in seiner deutschen Originalfassung erschienen ist, als Übersetzung im Comic-affineren Frankreich publiziert wurde, soll der Auftakt einer Trilogie sein, zu der sich noch die Bände »Beta … civilisations« und »Gamma« gesellen sollen.
»Beta« soll die gesamte Menschheitsgeschichte umfassen, die Entwicklung der ersten Menschen aus rattenähnlichen Baumbewohnern, über den Steinzeitmenschen, die alten Ägypter, Römer, das alte China, das Inkareich, das Wikingerreich bis ins Digitalzeitalter. Der Abschlussband »Gamma« ist als futuristische Zukunftsschau geplant.
Vier Jahre hat Harder an seinem Comic-Band gesessen, erst wurden Bibliotheken umgepflügt und dann die detailierten und wissenschaftsgeschichtlich belegten Zeichnungen ­gefertigt. Insgesamt acht Jahre veranschlagt er dann noch mal für den auf 700 Seiten geplanten »Beta«-Band.
Fragen kann man natürlich, welchen Sinn so ein Riesenprojekt eigentlich macht. Man ist beeindruckt von seinen Dimensionen, von der gewissen Besessenheit, mit der hier zu Werke gegangen wird, und der Maßlosigkeit des Ganzen, wird zugleich aber auch davon erschlagen. Vielleicht ist es auch so, dass manche Typen Schiffe über Berge ziehen oder ihre Kamera stundenlang auf eine Wolkenkratzerdach halten, während andere die Entstehung der Welt eben mit einem Stift nachzeichnen.

Jens Harder: Alpha... directions. Carlsen-Verlag. Hamburg 2010, 352 Seiten, 49,90 Euro