Über den Film »Ich, Tomek«

Wünsche erfüllen

»Ich, Tomek« schildert den kurzen Weg eines polnischen Jungen in die Zuhälterei.

Tomek (Filip Garbacz), der in einer kleinen polnischen Grenzstadt lebt, ist 15 Jahre alt und damit in einem Alter, in dem er die Tristesse um sich herum schon ahnt, aber noch nichts von ihr weiß. Deswegen fällt ihm nicht auf, dass sein bester Freund Ciemny (Daniel Furmaniak) unglücklich ist, ein bisschen zu aggressiv und sein Geld außerdem als Stricher verdient. Er merkt auch nicht, wie eng die Wohnung ist, in der er mit seinen Eltern und seiner Schwester wohnt, und dass seine Eltern Geldprobleme haben. Am liebsten baut er mit seinem Deutschlehrer und ein paar Mitschülern auf dem Dachboden der Schule ein Observatorium auf, ab und zu geht er in den Kirchenkreis zum Singen und Tanzen, manchmal spielt er Fußball in der Jugendmannschaft, die sein Vater trainiert.
Doch mit 15 Jahren kommt Tomek langsam in das Alter, in dem aus dem Ahnen Wissen wird, und so lernt er den Kapitalismus, dessen Ausprägung in seinem Heimatort an der deutsch-polnischen Grenze nicht besonders bunt, fluf­fig verpackt und variationsreich ist, bald besser kennen. Erst fehlt das Geld für ein Tele­skop, das er braucht, um das Observatorium fertig zustellen, dann will der Pfarrer ihm nicht helfen, es mit der Sonntagskollekte zu finanzieren. Seine Mutter schuftet die ganze Zeit, er fühlt sich im Stich gelassen und fängt an, in der Disko herumzuhängen. Dort verliebt er sich in Marta, die schon einiges mehr weiß als er, zum Beispiel wie toll es drüben in Deutschland ist, das so nah und doch so fern liegt. Aber vor allem weiß sie, dass Geld die Welt regiert, und genau davon hat Tomek zu wenig. Um Marta ihre Wünsche erfüllen zu können, fängt er an, Spargel und Gartenzwerge auf dem Markt zu verkaufen. Weil er damit aber kaum etwas verdient, sucht er nach einer anderen Geldquelle, und im polnischen Grenzgebiet scheint es sowohl für die Jungs als auch die Mädchen nur eine Option zu geben: Prostitution. Schnell erfährt Tomek das Glück des kleinen Wohlstands, aber auch die Brutalität des Stricherlebens. Nachdem er von einem Kunden vergewaltigt worden ist, wechselt er die Seiten und beginnt, als Zuhälter zu arbeiten.
Schnell und völlig unvermittelt wird der Weg des Jungen in die Zuhälterei geschildert. Das ist schade, denn das Thema der Kinderprostituition in den osteuropäischen Ländern ist durchaus brisant. Es hätte spannend werden können, Tomeks Entwicklung, erst als Stricher, dann als Zuhälter zu verfolgen. Denn Tomek befindet sich in der Klemme: Er braucht Geld, aber es gibt praktisch keine Verdienstmöglichkeiten. Überleben funktioniert noch, irgendwie, sich Wünsche erfüllen aber nicht mehr. Leider fällt Regisseur Robert Glinksi genau an diesem Punkt sein moralisches Urteil: Als Tomek seine eigene Armut entdeckt und erkennt, welche Rolle ihm die Gesellschaft zugewiesen hat, verliert er seine Unschuld. Statt zu fragen, wie es dem 15jährigen geht, welches seine Motive sind und wie er diese trostlose Welt erlebt, wird die Figur des Jungen zum Exempel einer eindimensionalen Kapitalismuskritik. Nach dieser Logik wird aus dem Opfer ein Täter, wenn es sich »an dem Spiel« beteiligt. Das Mitmachen und der Wunsch, Geld zu haben, werden mit protestantischem Eifer verurteilt und am Ende mit Bestrafung und Erlösung sanktioniert. Dabei hätte es so viele Geschichten zu erzählen gegeben: Man hätte mit Tomek Angst, Wut und Hoffnung erleben können, die Enge der Stadt und das Niederdrückende angesichts der wenigen Möglichkeiten, die ihm bleiben. Stattdessen muss Tomek als Platzhalter fungieren: Erst ist er der brave Schüler, dann der Suchende kurz vor dem Sündenfall, dann selber ein Sünder.
Mit »Ich, Tomek« hat Glinski ein lupenreines Sozialdrama gedreht, seine übereifrige Didaktik erstickt seinen interessanten Stoff. Man ahnt, was Glinski beabsichtigt: »Ich, Tomek« soll ein politischer, ein aufklärender Film sein, aber mit seinen Platitüden erreicht er das Gegenteil und verschenkt alle politischen Möglichkeiten. Die pädagogische Dramaturgie präsentiert das Leben des Jungen als Einbahnstraße und lässt dem Zuschauenden keinen Spielraum für Interpretationen. Glinski macht aus einer eigentlich glaubwürdigen Geschichte einen unglaubwürdigen Film.
Der Filmemacher Christoph Hochhäusler hat einmal gesagt: »Ich glaube zutiefst daran, dass sich das Individuum in der Falle der Prädestination sozialer Umstände immer wieder anders entscheiden kann. In dem Moment, in dem das als Mechanik dargestellt wird, verletzt das die Menschenwürde.« Diese Mechanik ist das Hauptproblem des Sozialdramas, das sich mehr für seine Argumente als seine Figuren, mehr für Erklärungen als den eigenen Stoff interessiert. Statt Fragen zu stellen, möchte Glinski Ausrufezeichen setzen, eine eindeutige Botschaft formulieren. Statt einer Geschichte verfilmt er eine politische These ohne Sprengkraft und liefert die Beweisführung gleich mit.
Ähnlich verfährt Glinski bei der Darstellung der Situation an der Grenze. Man erlebt Deutschland als brutale Fratze eines glitzernden Kapitalismus, während die polnische Seite vor allem durch Perspektivlosigkeit geprägt ist. Die im Film dargestellten Deutschen erscheinen als gierige Kapitalisten, die Polen als ewige Verlierer, die zwar mitmachen wollen, aber nicht können. Statt diese Widersprüche aus der Sicht Tomeks erfahrbar zu machen, verliert sich Glinski in nicht auflösbaren Dichotomien nationaler Stereotype: dort die raffgierigen Deutschen, drüben die neidisch nach Deutschland schielenden Polen.
Dabei scheint er es doch zu können, denn in der Figur von Tomeks Vater findet sich all das wieder, was die anderen vermissen lassen. Im Generationenunterschied zwischen den beiden und in ihrem Verhältnis zueinander wird klar, in welchen Situationen sie sich befinden: Auf der einen Seite der faule, maskuline Vater, ein Fußball liebender Idealist, der aus einer vergangenen, vielleicht weniger brutalen, aber auch ignoranteren Welt zu kommen scheint. Und auf der anderen Seite Tomek, der seinen Vater liebt, aber nicht sportlich genug für dessen Fußballverein ist und ein Außenseiter bleibt in dieser Stadt, in der alle Jugendlichen die Geschlechterstereotype der Eltern einerseits und die Statussymbole des Nachbarlandes andererseits zu kopieren scheinen. Sein Vater spürt das, weiß aber nicht, wie er den Weg zu seinem Sohn finden kann. Aus diesem Riss wird eine Kluft. An dieser Stelle merkt man auch das einzige Mal, wie die Probleme und Fragen in Tomek brodeln, und für einen kurzen Moment ergeben sich eine Menge Möglichkeiten. So wäre der Film fast so politisch geworden, wie Glinski ihn sich vielleicht vorgestellt hat. Er wäre dann aber auch kein Sozialdrama gewesen.

»Ich, Tomek« (D, 2009). Regie: Robert Glinski.
Start: 11. Juni