Der SPDler Bülent Ciftlik und die »Schutzehe«

Eine andere Fallhöhe

Mit Bülent Ciftlik hatte die Hamburger SPD nicht nur ein hoffnungsvolles politisches Nachwuchstalent gefunden, der Bürgschaftsabgeordnete war auch ein perfekter Werbeträger für die Geschichte einer erfolgreichen Integrationspartei. Als die Justiz gegen ihn ermittelte, übertrafen sich seine Genossen in Distanzbekundungen.

»Obama von Altona«, so nannten ihn die Boulevardzeitungen. Seine Parteifreunde aus der Hamburger SPD sahen in Bülent Ciftlik schon den künftigen Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters.
Entdeckt und protegiert wurde der in Deutschland geborene Sohn eines türkischen Werftarbeiters und einer Putzkraft vom früheren SPD-Generalsekretär Olaf Scholz. Ciftlek entwickelte sich zum politischen Shootingstar, im Alter von 29 Jahren wurde er politischer Referent, mit 32 Jahren war der Politologe Pressesprecher der Hamburger SPD. Im Jahr 2008 gewann Ciftlik mit einem beeindruckenden Ergebnis den Wahlkreis Altona. Die Frauenzeitschrift Brigitte aus dem Hamburger Verlagshaus Gruner + Jahr beschrieb ihn als »Mann zum Niederknien« mit einem »Hals zum Reinbeißen«. In der Hamburger Bürgschaft sitzt er im Familien- sowie im Sozial- und Gleichstellungsausschuss, seine Fraktion hat ihn zum Fachsprecher für Migration, Flüchtlinge und Ausländer gewählt.

Als bekannt wurde, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft gegen Bülent Ciftlik wegen »Anstiftung zu einem Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz« ermittelte, beurlaubten die Genossen ihn mit sofortiger Wirkung von seinem Amt als Pressesprecher. Schon bevor im Januar der Prozess begann, distanzierten sich die Parteifreunde von ihrem früheren Hoffnungsträger. Angeklagt wurde Ciftlik wegen des Verdachts, seine frühere Freundin Nicole D. vor zwei Jahren zu einer Scheinehe mit einem türkischen Bekannten überredet zu haben. Vor der Heirat drohte Kenan D., der in Hamburg einen Imbiss betreibt, die Abschiebung. Die Ausländerbehörde hatte ihm die Aufenthaltsgenehmigung verweigert. Ciftlik wurde vorgeworfen, für diesen Freundschaftsdienst 7 000 Euro verlangt zu haben. Nicole D. soll für die Eheschließung 4 000 Euro erhalten haben, das übrige Geld soll Ciftlik in seinen Wahlkampf in Altona investiert haben. Bülent Ciftlik, der Trauzeuge bei der Hochzeit von Nicole und Kenan D. war, bestreitet die Vorwürfe: »Ich habe in keiner Weise zur Ehestiftung beigetragen, mir von dieser finanzielle Vorteile versprochen oder gar erhalten«, sagte er vor Gericht.
Am 28. Juni verurteilte das Amtsgericht Hamburg-St. Georg Ciftlik zu einer Geldstrafe von 12 000 Euro. Die Richter wollten »nicht ausschließen, dass Ciftlik aus altruistischen Motiven gehandelt hat«. Doch als Bürgerschaftsabgeordneter habe er eine besondere Verantwortung vor Recht und Gesetz. Ciftlik beauftragte seinen Verteidiger Cornelius Weimar, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.

Nur wenige Minuten nach der Urteilsfindung äußerte sich der SPD-Landesvorsitzende Olaf Scholz: »Das Urteil beendet auch die politische Laufbahn von Ciftlik. Der Abgeordnete sollte Partei und Fraktion nun verlassen. Wenn er diesen Schritt nicht von sich aus unternimmt, werden Landesvorstand und Fraktion ihn ausschließen.« Altruistische oder gar politische Motive, die vom Gericht noch in Erwägung gezogen wurden, spielten bei der Beurteilung durch die Parteifreunde keine Rolle, und das hatten die Granden der Hamburger SPD auch schon Wochen zuvor angekündigt. Die Linie der Partei zeichnete sich bereits ab, als die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen waren. Für einen Scheinehevermittler sollte es keinen Platz geben, weder auf den Hinterbänken noch auf einem der vielen Versorgungsposten in den parteinahen Institutionen, die sich sonst nach jeder Korruptionsaffäre mühelos finden lassen.
Um sich von ihrem Abgeordneten Bülent Ciftlik auch ohne dessen Einverständnis verabschieden zu können, hatte die SPD-Bürgerschaftsfraktion schon prophylaktisch eine »Lex Ciftlik« beschlossen. Eine Änderung der bisherigen Geschäftsordnung erlaubt es ihr nun, »in begründeten Fällen« einen Abgeordneten mit qualifizierter Mehrheit auszuschließen. Bislang war ein Ausscheiden nur durch die Rückgabe des Mandats oder das Ableben des Amtsträgers möglich. Am Freitag voriger Woche verließ der frühere Hoffnungsträger die Fraktion. Er sei »sehr froh, dass Ciftlik nun durch sein Verhalten weiteren Schaden von der Fraktionsgemeinschaft fernhält«, sagte deren Vorsitzender Michael Neumann.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Politikern der Rücktritt nahegelegt wird, wenn sie wegen einer Straftat verurteilt werden. Doch im Fall Ciftlik fand sich in seiner Fraktion von Beginn an scheinbar niemand, der eine Entscheidung im Sinn eines in dubio pro reo treffen wollte. Bevor der Prozess begann, beschloss Ciftliks SPD-Bezirk Flottbek-Othmarschen, dass der Vorstand ihm den Parteiaustritt nahelegen möge. Ciftlik weigert sich jedoch bis heute, dies zu tun. Aus »innerer und tiefer Überzeugung« sei er Sozialdemokrat und werde dies »auch in Zukunft bleiben«, erklärte er nach dem Urteilsspruch. Der »Organisation, der ich und viele andere mit meinem Hintergrund sehr viel zu verdanken haben«, wolle er mit seinen »bescheidenen Mitteln etwas zurückgeben«. Die »Organisation« wollte von solcher Dankbarkeit nichts wissen, noch am Tag der Urteilsverkündung leitete der SPD-Landesvorstand ein Parteiausschlussverfahren ein.
»Berauscht vom eigenen Höhenflug« sei Ciftlik gewesen, sagen Menschen, die seine Karriere verfolgten. Schwierige bis hochnäsige Umgangsformen wurden ihm nachgesagt, der schnelle Aufstieg bescherte ihm eine Menge Neider. Das mag vielleicht erklären, warum sich seine Parteifreunde so brüsk von ihm abwendeten. Politisch betrachtet hat der Fall Ciftlik, unabhängig von dem, was der Abgeordnete der Hamburger Bürgerschaft getan oder nicht getan hat, eine größere Dimension. Wer in Deutschland das Ausländerrecht nicht achtet, ist erledigt. Dieser Rechtsbereich, der früher dazu diente, einen imaginierten Volkskörper reinzuhalten und in seiner modernisierten Fassung die Funktion hat, dessen Wohlfahrtsraum abzuschotten, erscheint sakrosankt. Allein das Verdachtsmoment, gegen die Richtlinien der Ausländerpolitik verstoßen zu haben, reicht aus, um zur Persona non grata erklärt zu werden.
Nicht nur an den Reaktionen der Hamburger SPD und ihrer prominenten Mitglieder, sondern auch in der Berichterstattung der Medien fiel auf, dass eine kritische Auseinandersetzung mit dem geltenden Ausländerrecht umgangen wurde.

Dass Ciftlik sich aus antirassistischen Motiven für eine »Schutzehe« eingesetzt haben könnte, wurde in der öffentlichen Debatte nicht in Erwägung gezogen. Die mögliche Bezahlung, die Ciftlik dafür genommen haben könnte, ließ die Angelegenheit politisch wie moralisch anrüchig erscheinen. Doch dass Kenan D., der seit Jahren in Deutschland lebt und nicht in die Türkei zurückkehren wollte, es überhaupt nötig hatte, mit solchen Mitteln den Stempel in seinem Pass zu erhalten, ist der eigentliche Skandal. Die Hamburger Justiz wertete den Fall als Korruption. Im Vergleich mit dem Fall Roland Koch, der nach dem CDU-Spendenskandal ein ganzes Jahrzehnt Ministerpräsident bleiben durfte, oder Wolfgang Schäuble, der ohne nachhaltige Schädigung seines Rufs 100 000 Mark von einem Waffenschieber annehmen konnte, sind die Reaktionen im Fall Ciftlik drastisch.
Die Medien und seine eigene Partei dürften auch deshalb so empfindlich reagiert haben, weil Ciftlik Migrant ist und nicht die erwartete Dankbarkeit für die großzügige Aufnahme in die nationale Gemeinschaft gezeigt hat. Für Politiker mit Migrationshintergrund scheint das weiterhin eine Voraussetzung für den Zutritt zur politischen Bühne zu sein.