Michael Hartmann im Gespräch über die Renaissance der Elitedenkens

»Es gibt eine Renaissance des Elitedenkens«

Michael Hartmann forscht an der Technischen Universität Darmstadt zur Eliten­soziologie. In der Studie »Der Mythos von den Leistungseliten« beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang von sozialer Herkunft und dem Zugang zu Elite­positionen.

Warum hängen die Befürworter der Initiative gegen die Hamburger Schulreform so sehr am Gymnasium?
Es ist wichtig zu sehen, dass nicht einfach die Hamburger Elite für ihr Gymnasium kämpft. Die Initiative hat 170 000 Unterschriften gesammelt, und bei der letzten Bürgerschaftswahl haben 780 000 Bürger gewählt. Die Wortführer sind im Wesentlichen Anwälte oder Ärzte, aber die Unterstützung dürfte darüber hinausgehen, weil auch in Teilen der Mittelschicht das Gymnasium als Garantie dafür gilt, dass man es später besser hat. Diese Garantie besteht darin, dass man zu jenen 40 Prozent gehört, die diesen Sprung überhaupt schaffen. Für deren Zukunft auf dem Arbeitsmarkt heißt das, dass man schon mal 60 Prozent der potenziellen Konkurrenten weniger fürchten muss. Das ist nicht immer so eindeutig, aber das Motiv ist bei vielen doch, dass die eigenen Kinder zumindest das, was man selbst erreicht hat, halten können sollen. Und da sind Abitur und Studium ungeheuer wichtig.
Studien zeigen immer wieder, dass in Deutschland die soziale Herkunft immer noch eine wichtige Rolle spielt. Könnte die sechsjährige Primarschule dieses Problem lösen?
Man kann das Problem damit nicht lösen, aber man kann der Lösung damit näherkommen. Studien kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass es Kinder aus armen Familien, aus Arbeiterfamilien und ähnlichen in Deutschland besonders schwer haben, hohe Bildungsabschlüsse zu erreichen. Das hat viel mit der Dreigliedrigkeit des Schulsystems zu tun. Ein Schritt wie in Hamburg, der zumindest die gemeinsame Zeit der Schüler auf sechs Jahre verlängert, ist keine Lösung, aber geht in die richtige Richtung. Alle diejenigen, die von Haus aus ein Handicap haben, haben nur eine einzige Chance: dass der öffentliche Bereich möglichst gut ausgestattet wird und dass die Schüler alle in einer Klasse oder in einer schulischen Einheit möglichst lange zusammen bleiben, weil damit begünstigt wird, dass die Schwächeren von den Stärkeren lernen.
Ist die Abkehr vom gegliederten Schulsystem in Deutschland auch eine Antwort auf aktuelle ökonomische Anforderungen in Deutschland?
Das kann man so eindeutig nicht beantworten. Es ist natürlich so, dass dieses dreigliedrige Schulsystem auf Dauer Probleme schafft, weil schlicht die Anzahl der zur Verfügung stehenden qualifizierten Arbeitskräfte bei den kleiner werdenden Jahrgängen von Jahr zu Jahr schrumpft. Die Handwerkskammern Hamburgs und Baden-Württembergs haben sich vor etlichen Jahren gegen die Dreigliedrigkeit gewendet, weil sie gemerkt haben, dass die Absolventen, die sie bekommen, eine Menge Schwächen aufweisen. Die Kammern hoffen, dass sie bessere Bewerber bekommen, wenn die Dreigliedrigkeit aufgehoben wird. Wenn man sich Länder ansieht, die kein dreigliedriges Schulsystem haben, sieht man allerdings, dass es dort durchaus andere Formen der Differenzierung gibt. Ob das nun spezielle Eliteschule sind wie in Großbritannien, wo es einen Privatschulsektor gibt oder ob man wie in den USA die Schulen einfach kommunal finanzieren lässt und damit die armen Gemeinden und Stadtteile benachteiligt.
Bildungssysteme haben eine Doppelfunktion. Sie müssen auf der einen Seite für eine kapitalistische Wirtschaft Arbeitskräfte ausbilden. Auf der anderen Seite ist das Bildungssystem ein ganz entscheidender Mechanismus, um Klassenverhältnisse zu reproduzieren, und beides passt nicht immer zusammen. Nehmen wir das Beispiel der Bildungsreform der sechziger Jahre. Unter dem Aspekt der Herrschafts- und Klassenreproduktion war das deutsche Bildungssystem der fünfziger und sechziger Jahre perfekt. Wer an die Hochschule kam – das waren fünf bis sieben Prozent – hatte damit praktisch die Garantie auf einen hoch qualifizierten und dotierten Arbeitsplatz. Das waren in der Regel die Kinder aus bürgerlichen Familien oder aus dem oberen Randbereich der Mittelschichten und die kamen dann wieder dahin, wo ihre Eltern auch schon waren.
Für die Wirtschaft insgesamt war der Anteil von fünf bis sieben Prozent aber auf Dauer zu gering. Die Bildungsexpansion der sechziger Jahre erfüllte somit auch Anforderungen des Kapitals zur damaligen Zeit. Die zwei Funktionen des Bildungssystems gingen zu diesem Zeitpunkt nicht Hand in Hand. Danach hat das eine ganze Weile lang funktioniert, und jetzt gibt es wahrscheinlich wieder Probleme, weil die Bildungsdiskussion nicht nur in Hamburg sehr heftig geführt wird und die Ergebnisse von Pisa ja nicht nur große Teile der Bevölkerung, sondern auch der Wirtschaft verunsichert haben. Aber man muss sehen, dass die Gemengelage bei bildungspolitischen Diskussionen kompliziert ist. Man kann nicht einfach sagen, dass es Erfordernisse des Kapitals gäbe, die sich unmittelbar durchsetzten.
Heißt das, die Dreigliedrigkeit ist im Denken der deutschen Gesellschaft tief verwurzelt?
In Deutschland war die Ansicht stark verankert, es gäbe in der Bevölkerung eine Art biologische Verteilung mit zehn Prozent theoretisch Begabten, die aufs Gymnasium gehen, zehn Prozent theoretisch-praktisch Begabten, die auf die Realschule gehen, und 80 Prozent praktisch Begabten, die auf die Volksschule gehen. Das hat sich verändert, aber – und das erschreckt mich immer wieder – diese Ansicht ist nie völlig verschwunden. Ich habe vor einiger Zeit eine Panorama-Sendung gesehen, in der eine Aktivistin der Hamburger Initiative etwas gesagt hat, was mich sehr an diese Ansicht erinnert hat. Sie sagte sinngemäß, die Bildungsreformen hätten ein akademisches Proletariat geschaffen, das weder für eine akademische noch für eine gehobene wissenschaftliche Laufbahn geeignet sei. Offenbar gibt es da auch so ein biologisches Verständnis, es gäbe einen gewissen Prozentsatz der Bevölkerung, die zu einer akademischen Karriere in der Lage sei und beim Rest sei höhere Bildung sinnlos. Ich habe das Gefühl, dass in den letzten Jahren dieses Denken wieder stärker zum Vorschein gekommen ist. Es gibt eine jüngere Generation, die ganz ohne Selbstzweifel sagt, »wir sind Elite« oder »wir sind diejenigen, die einfach besser sind und mehr Anrechte haben«. Da erfahren Denkmuster eine Renaissance, die in den fünfziger und sechziger Jahren gängig waren.