Der Bürger lässt die Maske fallen

Das Schicksal war Norbert Bolz gnädig. »Viele Akademiker, Journalisten und Intellektuelle sind aber gar nicht links, sondern maskieren sich nur so, um in ihren Institutionen überleben zu können«, kommentiert er im Tagesspiegel. Bolz ist ein bekennender Konservativer, doch er entkam den von der linken Presse verschwiegenen Massenhinrichtungen. Nun fristet er ein erbarmungswürdiges Dasein als Professor an der TU Berlin, in ständiger Angst davor, für seine Rebellion womöglich mit einem Sitz im Vorstand der Bundesbank bestraft zu werden. So erging es bekanntlich Thilo Sarrazin, nach dem Bolz ein Syndrom benannt hat: »Wer einen ›rechten‹ Satz sagt oder schreibt, bekommt viel Zustimmung – hinter vorgehaltener Hand.«
»Die politische Rechte steht für Bürgerlichkeit«, behauptet Bolz, der eine neue »konservative« Partei für wünschenswert hält. Doch er und seine Mitstreiter verwechseln ihr Anspruchsdenken mit den bürgerlichen Tugenden. War Voltaire noch bereit, sein Leben für die Meinungsfreiheit des politischen Gegners zu opfern, hält es der Bolz-Bürger schon für eine unerträgliche Zumutung, wenn er seine eigene Meinung gegen kritische Argumente verteidigen soll. Ein guter Bürger weiß aber auch, dass bestimmte Ämter die Verpflichtung mit sich bringen, manchmal den Mund zu halten. Von einem Botschafter etwa wird erwartet, dass er bei einem Empfang auf die Frage, wie es ihm im Gastland gefällt, nicht antwortet: »Auf den Straßen stinkt es, euer Präsident ist ein Idiot und das Essen hier ist scheußlich«, selbst wenn das alles der Wahrheit entspräche. Von einem Vorstandsmitglied der Bundesbank wird ebenfalls diplomatische Zurückhaltung erwartet, denn jede unbedachte Äußerung kann Aktien- und Wechselkurse beeinflussen oder ausländische Handelspartner verärgern. Früher hielt man die Beachtung dieser Regel für selbstverständlich. Dann kam Thilo Sarrazin, der mit seiner frei erfundenen prozentualen Bewertung von Intelligenz und Integrationswillen des Humankapitals auch bewiesen hat, dass er von der bürgerlichen Tugend der Seriösität nichts hält. Da Ronald Schill, der Bolz’ Traum einer neuen konservativen Partei bereits verwirklicht hat, seine Nase lieber in brasilianische Bordelle und weißes Pulver steckt, wurde Sarrazin zum Helden erkoren. Auch konservative Werte wie Respekt vor dem Alter oder christliche Demut sind dem vom Sarrazin-Syndrom Befallenen fremd. Das Problem mit diesen neurechten »Bürgern« ist: Sie wollen alles, sofort, umsonst und dulden keinen Widerspruch. Die Bolz-Bürger sind die wahren Repräsentanten der Anspruchshaltung, die sie den Linken und 68ern unterstellen. Sie bestehen darauf, sich benehmen zu dürfen wie pubertierende Lümmel, fordern aber, als unantastbare Angehörige einer Elite anerkannt zu werden, der man Dank und eine Steuersenkung schuldet.