Zum Tode von Christoph Schlingensief

Der im Wolfgangsee badete

Christoph Schlingensief ist gestorben. Mit ihm verschwindet wohl ein weiteres Stück spätbürgerlicher Unterhaltungskultur.

Das deutsche Kettensägenmassaker« war der Anfang: 1990 spiegelte Christoph Schlingensief die nationale Vereinigung in einer Realsatire wider. Im Gewande des Splatterfilms präsentierte er gleichsam die Eingeweide deutscher Innerlichkeit: eine Völkerschlacht von Deutschländerwürstchen, Geschichte als Metzgerei. Als auch in dieser Republik die Postmoderne mit ihren ironischen Brechungen, Strategien der Wiederholung und der Simulation angekommen schien, war das ein Skandal, wenn auch noch keine wirkliche Zäsur. Die Bilder waren zwar schnell indiziert, interessierten eigentlich aber nur eine sich ohnehin als Subkultur verstehende Szene, die mit dem offiziellen Kulturbetrieb nichts zu tun haben wollte. Dennoch war das, was Schlingensief im »Kettensägenmassaker« präsentierte, für den damals 30jährigen bereits programmatisch: laute Bilder, obszöne Vergrößerungen.
»Ich habe nichts zu sagen, nur zu zeigen«. Der einmal von Walter Benjamin notierte Satz könnte als Leitmotiv für Schlingensief gelten. Tatsächlich hatte Schlingensief nie viel zu sagen: Er machte Kunst ohne Botschaften, folgte keinem pädagogischen Auftrag. Und das war gut so, nämlich in seiner Logik der Überbietung durchaus auch unprätentiös. Denn er zeigte, spiegelte eine Gesellschaft der Informations- und Bilderflut, die zugleich uninformiert und bilderlos zu bleiben schien. Seine Arbeiten waren Demons­tra­tionen in einem ganz buchstäblichen Sinne: Hinweise als offensichtliche Beweise, szenische Überbelichtungen und imaginäre Verdichtungen einer Welt, die erst in Schlingensiefs Darstellungen ihren wahren, nämlich grausamen und zugleich belanglosen Charakter offenbarte. Punk als ästhetisches Konzept, der Skandal als künst­lerische Strategie.
Heute, zwei Jahrzehnte später, ist diese Strategie des Skandals längst in das Spektakel integriert, Teil der spätbürgerlichen Unterhaltungskultur, die die Selbstzerstörung der Humanität als höchsten Genuss zu erleben vorgibt. Punk ist kein ästhetisches Konzept mehr, sondern konzeptlose, bloße Ästhetisierung. Die bloß zwei Jahrzehnte umfassende Karriere Schlingensiefs ist nicht nur eine Künstlerbiografie, sie gibt vielmehr Aufschluss über deutsche Kulturgeschichte, die immer auch ein Reflex der deutschen Sozialgeschichte ist. Erst in dieser Wendung offenbaren Schlingensiefs Arbeiten ihre politische Dimension.
Bemerkenswert ist dabei, inwieweit Schlingensiefs Arbeiten, die sich der Idee der Wahrheit immer versperrten, doch ihren Zeitkern der Wahrheit haben und deshalb auch der Notwendigkeit der Verteidigung, dem Gebot der Rettung unterliegen.
Vor dem »Kettensägenmassaker« hatte der 1960 in Oberhausen geborene Schlingensief bereits einige Kurzfilme gedreht. 1988/89 produzierte er »100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker«, eine in 16 Stunden am Stück gefilmte Tragödie, die sich bekanntlich als Farce 15 Jahre später in Hirschbiegels »Der Untergang« wiederholen sollte. Das war dann 2004. Schlingensief produzierte »Freakstars 3000«, eine Persiflage auf die Casting- und Retortenkultur, und er inszenierte Wagners »Parsifal« in Bayreuth: ein Punk in der Hölle der deutschen Hochkultur, der es sich zum Prinzip gemacht hat, das Gesamtkunstwerk so weit zu übertreiben, aufzublasen, so viel Sinnlosigkeit und Banalität hineinzupumpen, bis es wohl einfach platzen würde. Dabei sollen natürlich ordentlich Blut und Gedärm spritzen. Schlingensief war beim Pop angekommen.
Gerade die Verweigerung jeder Authentizität schlug sukzessive ins Authentische zurück. Anders gesagt: Wahrheit wurde zur Wahrhaftigkeit, Wahrhaftigkeit zur für Gutmenschen inszenierten politischen Korrektheit. Gerade weil sich alle in der Empörung über das Unkorrekte einig sind, kann der Künstler goutiert werden. Unterschätzt hatte Schlingensief, dass das Gesetz »Wer am lautesten brüllt, der hat auch Recht«, keine ästhetische Provokation ist, sondern die Normalität popgesellschaftlicher Meinungsbildung charakterisiert. In der Normalgesellschaft der Neuen Mitte durfte, ja sollte er Hofnarr und Eulenspiegel sein.
Spätestens an dieser Stelle kippt der Skandal, wird zur idiotischen Aktion, etwa wenn Schlingensief Neonazis als Schauspieler auf die Bühne holt, bei der Anarchistischen Pogo-Partei Deutschlands mitmacht und selbst eine Partei gründet.
Entscheidend bleibt der Schritt vom Film zum Theater, also eigentlich ja ein Schritt zurück in die bürgerliche Kultur, wobei Schlingensief sich der klassischen Idee der »Schaubühne als moralischer Anstalt« (Schiller) ebenso widersetzte wie dem Lehrstück. Wenn man so will, paraphrasierte Schlingensief ein Theater der Grausamkeit und schuf das Theater der Lächerlichkeit. Auch, indem er, wie schon in den frühen Filmen, den Horror und den Schock, den Ekel und den Schmerz zur Persiflage verzerrte. Auf perfide Weise passte das gut zu einer Kultur, die sich einer zunehmenden Selbstinfantilisierung unterworfen hatte. Damit geriet Schlingensief in die Rolle des trotzigen Jungen, der sich bereitwillig in seinem Scheitern vorführen ließ.
Ende der Neunziger hatte Schlingensief im »Kanal 4« seine Talkshow »Talk 2000«. »Ich bin etwas nah am Wasser gebaut, weil ich unter Druck stehe. Ich will aber heute Abend lachen. Ein schwieriges Thema, weil es in Deutschland ja schwer ist mit dem Lachen seit dem Zweiten Weltkrieg«, kündigt er seinen Gast Harald Schmidt an. Nach fünf Minuten gewollt-lustigen Geplänkels über jugendliche Sexualerfahrungen sagt Schlingensief nichts mehr, verlässt den Raum, brüllt dann hinter der Bühne die Assistentin an: »Ich bin kein Pointen-Typ! Ich kann das nicht, ich will das nicht!« In einer anderen Sendung versucht er sich zu entschuldigen: »Ich habe mehr geschwitzt denn je.« Schmidt habe ihn fertig gemacht. Ein Mann aus dem Publikum schaltet sich ein; Schlingensief wird laut, schreit den Mann an: »Bist Du bescheuert, oder was?« Dann springt er hoch, greift den Mann an, scheuert ihm eine. Vielleicht ist das alles gestellt – jemand ruft »Fake-Scheiße!«. Eine peinliche Situation, bei der aber das Peinlichste ist, dass die Szene die ganze Zeit von einem hämischen Gekicher begleitet wird.
Er hat nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks überschritten, sondern gewisser­maßen auch die Grenzen des schlechten Geschmacks. Schlingensiefs Dramatisierung der Geschmacklosigkeit spiegelt eine Gesellschaft, in deren Selbstwahrnehmung der Geschmack – der im Englischen etwas strenger »taste« heißt – als Kriterium der Legitimation abhanden gekommen ist. Das hätte ein politisches Motiv seiner Arbeit sein können. Schlingensief hat es aber bei der Kultur belassen, sich dem Spektakel überantwortet: An ihm lässt sich nachvollziehen, wie aus dem subversiven Antimodell des Pop die Verallgemeinerung der bloßen Gestik der Subversion werden konnte.
Und so stand Schlingensief zuletzt plötzlich auf dem roten Teppich, mitten im Zentrum der Normalität: Er heiratete, versuchte mit einem autobiografischen Bericht, seiner Krebserkrankung und der Furcht vor dem Tod Herr zu werden. Das Tagebuch ist ein Bestseller geworden, den Lungenkrebs konnte Schlingensief nicht bezwingen, das Projekt, zusammen mit dem Architekten Francis Kéré in Burkina Faso ein Operndorf zu errichten, konnte er nicht mehr zu Ende bringen.
Was wie eine letzte zynische Provokation klingt, ist trauriger Ernst: Am 21. August ist Christoph Maria Schlingensief, nur zwei Monate vor seinem 50. Geburtstag, an den Folgen seiner Krebserkrankung gestorben. Nicht einmal ein halbes Jahrhundert hat er es in der Welt ausgehalten, die er so beleidigte wie sie schließlich ihn: »Ich bin eine liebenswürdige Person«, meinte er in einem Interview, »deshalb beleidigt mich die Krankheit.«