Wir schikanieren euch alle

Man darf annehmen, dass jeder Mensch einmal geboren wurde, ein Säugling, dann ein Kind und später ein Jugendlicher war. Auch auf Sigmar Gabriel müsste das zutreffen. Hat der Mann seine Erinnerungen komplett verdrängt oder war er schon immer ein braver Junge, der nie auch nur mal verschlafen hat? »Egal ob Deutscher oder Ausländer: Wer seine Kinder nicht regelmäßig und pünktlich in die Schule schickt, dem schicken wir die Polizei vorbei und der zahlt auch empfindliche Bußgelder – auch dann, wenn er Hartz-IV-Bezieher ist«, sagte er dem Spiegel. Das ist die Antwort der SPD auf Thilo Sarrazin: Wir sind keine Rassisten, wir schikanieren euch alle.
Allerdings kann man Sarrazin nicht an allem die Schuld geben. Bereitwillig nahm die SPD bereits in den neunziger Jahren Tony Blairs Parole »Law and order is a Labour issue« auf. In den Jahren 2003 bis 2006 wurden unter der britischen Labour-Regierung 71 Menschen, überwiegend alleinerziehende Mütter, inhaftiert, weil ihre Kinder nicht zur Schule gingen. Sollte Gabriel sich durchsetzen, wird das auch in Deutschland passieren, wo bereits zahlreiche Menschen im Gefängnis sitzen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Der Einwand, dass die Inhaftierung der Mutter oder der Verzicht auf den Nachtisch, für den das gekürzte Hartz-IV-Einkommen nicht mehr reicht, dem Wohl des Kindes nicht dienlich sei, geht aber an der Sache vorbei. Denn das Ziel ist Disziplinierung. Früher gab es eine gewisse Toleranz gegenüber jugendlichem Übermut. Doch heute glaubt man, dass die Anpassung nicht früh genug beginnen kann. Zu allem Überfluss scheinen die Jugendlichen damit auch noch zufrieden zu sein, zumindest wird das in der jüngst erschienenen Shell-Studie behauptet. »Endlich zeigt unsere Jugend wieder Moral und Fleiß«, frohlockt Sabine Menkens bei Welt online. Die Freude wird von kurzer Dauer sein, bald wird man beklagen, dass es den Schulabgängern an Eigentinitiative und Kreativität mangelt, und, weniger vernehmlich, dass sie zu dusselig sind, um das in Politik und Geschäftsleben übliche Maß an Lügen und Betrügereien bewältigen zu können. Denn warum sind ehemalige Linke in der bürgerlichen Politik so erfolgreich? Weil man etwas lernt durch Renitenz. Ich kann noch heute den Unterschied zwischen einem Siedewasser- und einem Druckwasserreaktor erklären, weil ich als 16jähriger bei Debatten mit Lehrern und anderen Autoritäten nicht dumm dastehen wollte. Dissidenz ist ein guter Anreiz, sich zu bilden. Man könnte meinen, Gabriels Vorschlag sei hilfreich, weil er die Dissidenz fördere. Doch die Hoffnung, dass man die Jugendlichen nur genug triezen muss, um sie zur Rebellion zu treiben, erwies sich bislang als trügerisch. Da ist es ein Trost zu wissen, dass die Bourgeoisie mit dem derzeit produzierten Humankapital nicht zufrieden sein wird.