Arménio Carlos im Gespräch über die Nelkenrevolution und soziale Kämpfe

»Was hier stattfindet, ist Klassenkampf«

Vor 40 Jahren wurde in Portugal die »Confederação Geral dos Trabalhadores Portugueses – Intersindical Nacional« (CGTP-IN) gegründet. In der Zeit der Nelkenrevo­lution spielte sie eine wichtige Rolle in den sozialen Kämpfen. Mit etwa 800 000 Mitgliedern ist sie noch heute der größte portugiesische Gewerkschaftsverband. Arménio Carlos (54) ist Mitglied des Exekutivkomitees der CGTP und hat die revolutionären Ereignisse von 1974 miterlebt.

Die CGTP wurde noch während der faschistischen Diktatur gegründet. Das sind recht spezielle Entwicklungsbedingungen für eine Gewerkschaft. Inwiefern hat das den Charakter der Organisation geprägt?
Bereits im Faschismus hatten die demokratischen Kräfte einige der bestehenden Gewerkschaften unter ihre Kontrolle bringen können, und es entstand das Bedürfnis, sich zu koordinieren. So formierte sich 1970 die Intersindical Nacional, ein informeller Zusammenschluss von Gewerkschaften, aus dem später die CGTP erwuchs. Der ursprüngliche Zweck war es, eine Reihe von Forderungen der Arbeiter an die Unternehmer und die Regierung zu artikulieren. Die Intersindical war gewissermaßen eine Graswurzel-Organisa­tion, denn aufgrund der politischen Rahmenbedingungen wurde sie in den Betrieben geboren, war dezentral und wurde nicht von oben geleitet. Bis heute versuchen wir, die damit verbundenen Strukturen und Arbeitsweisen aufrechtzuerhalten.
Die Gewerkschaft stand schnell im Mittelpunkt revolutionärer Veränderungen. Wie kam es dazu?
Eines unserer Ziele war es, unter den schwierigen Bedingungen einer Diktatur konkrete Verbesserungen für die Arbeiter zu erreichen, insbesondere das Recht auf Kollektivverhandlungen und Tarifabschlüsse, aber auch grundlegende Bürgerrechte. Die Gründung der Intersindical erfolgte zudem im Zuge einer sehr starken Streikwelle. Wir stützten uns also nicht nur auf einzelne Betriebe, sondern auf ganze Wirtschaftsbereiche, in denen bereits Proteste gegen das Regime organisiert wurden. Diese wurden vor allem von einer Allianz aus kommunistischen und christlichen Gewerkschaftern vorangetrieben. Andere politische Orientierungen waren damals kaum präsent und wurden erst später aktiv. Indem wir den gewerkschaft­lichen Kampf um Arbeiterrechte mit dem politischen Kampf gegen die Diktatur verbanden, konnten wir in nur vier Jahren eine große und handlungsfähige Organisation aufbauen. Am Tag, als das faschistische Regime vom Militär gestürzt wurde, stellten wir sofort eine Reihe neuer Forderungen und gingen auf die Straße. Nur eine Woche später konnten wir allein in Lissabon eine Million Menschen zum 1. Mai mobilisieren.
Welchen Anteil hatte die Gewerkschaftsbewegung an den Sozialgesetzen und den Arbeiterrechten, die aus der Nelkenrevolution hervorgingen?
Die Zeit vom Militärputsch bis zum Herbst 1975 bezeichnen wir als die eigentliche revolutionäre Periode. In diesen eineinhalb Jahren, an deren Ende der Kapitalismus wieder auf dem Vormarsch war, intervenierten wir sehr stark. Praktisch alle sozialen Errungenschaften sind das Resultat dieser Interventionen, sei es das Recht auf Kollektivverhandlungen, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Urlaubsgeld, sei es das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung oder Sozialhilfe. Die Intersindical war dabei das Instrument, um das herum sich die Bevölkerung organisierte, um diese neuen Rechte einzufordern. Die Arbeiter beteiligten sich an diesem Kampf in den Betrieben und den Gewerkschaften, angetrieben von der Idee des sozialen Fortschritts. Es war eine schöne Zeit, in der zum einzigen Mal in unserer Geschichte der Anteil der Einkommen durch Arbeit höher war als der Anteil der Einkommen durch Kapital. Leider änderte sich das schnell wieder. Bildung und medizinische Versorgung waren damals absolut kostenlos. Auch das hat sich bis heute wieder verschlechtert, aber dennoch stammen die Grundlagen des heutigen Bildungs- und Gesundheitssystems aus jener Zeit. Sie war ein Schlüsselmoment unserer Geschichte, in dem all die sozialen Werkzeuge geschaffen wurden, von denen wir noch heute zehren – trotz der Gegenoffensive, die wir während der letzten 30 Jahre erlebten.
Dass die sozialen Errungenschaften schrittweise rückgängig gemacht werden, ist nicht nur ein Problem Portugals. Wie analysiert die CGTP diese Rückschritte?
Auch wenn sich die Dinge schon früher zum Schlechteren wendeten, kann kein Zweifel daran bestehen, dass die signifikanten Veränderungen mit dem Zusammenbruch des Ostblocks einsetzten. Der Kapitalismus hatte auf einmal freie Bahn, und gegen die Vorstellung, dass es keine Alternative zu diesem System gäbe, gab es keine ernstzunehmende Opposition – welcher Form auch immer. Die Konzerne und Regierungen trieben eine Politik voran, der das Verständnis zugrunde lag, Arbeiterrechte und restriktive Arbeitsbedingungen seien Hindernisse für die unternehmerische Entfaltung. Die schlimmsten Auswüchse dieser Politik bekamen wir erst im letzten Jahrzehnt richtig zu spüren. Die damit verbundene soziale Regression erleben wir natürlich nicht nur in Portugal, sondern in allen EU-Ländern. Die Grundzüge sind überall dieselben: Zum einen die Demontage produktiver Sektoren, da die Unternehmen ihre Produktion in Länder mit möglichst niedrigen Löhnen verlagern; zum anderen wurden die Arbeitsverhältnisse durch die Zunahme von Teilzeitarbeit und Arbeiten prekarisiert, die keine oder nur geringe Qualifikationen erfordern. Unzureichende staatliche Investitionen in sozi­ale Maßnahmen sind ein weiteres Charakteristikum. Auch die privaten Unternehmen zahlen kaum mehr dafür ein, stattdessen erhalten sie selbst Zuwendungen vom Staat.
Was macht die Situation in Portugal so speziell?
Unsere produktiven Sektoren wurden so gut wie zerstört. Portugal muss 75 Prozent der benötigten Nahrungsmittel und Agrarprodukte importieren. Dabei haben wir exzellentes Wetter für die Landwirtschaft, eine immens große Seezone und gute Gewässer zum Fischen, bei uns gibt es jede Sorte Fisch, aber es ist uns nicht gestattet, sie zu fischen. Die Auflagen der EU verhindern die Entwicklung unserer potentiell stärksten Wirtschaftsbereiche. Das Problem hängt also auch mit dem EU-Beitritt Portugals zusammen. Als ein Resultat des Beitritts nahm die Lebensqualität ab, es gab einen ernsthaften Anstieg der Armut. Mit etwa elf Prozent haben wir die vierthöchste Arbeitslosenquote in der EU, wobei 45 Prozent der etwa 700 000 Arbeitslosen langzeitarbeitslos sind und keine Perspektive haben. Gleichzeitig hat die Regierung die Unterstützung für Arbeitslose immer mehr reduziert. Es ist aber nicht nur eine quantitative Frage. Zum Beispiel sind zehn Prozent der Bevölkerung arm trotz Arbeit. Denn über 20 Prozent der im Land verrichteten Arbeit findet unter prekären Bedingungen statt, bei den jungen Arbeitern bis 35 befinden sich gar 38 Prozent in prekären Arbeitsverhältnissen. Es ist also auch die Qualität der Jobs, die besonders schlecht ist.
Die Krise scheint diese Entwicklung zu verschärfen. Wie werden sich die geplanten Sparmaßnahmen auswirken?
Schon vor fünf Jahren erlegten OECD und IWF Portugal auf, zahlreiche Opfer zu bringen. Damals sank das Haushaltsdefizit tatsächlich auf 2,8 Prozent. Bis Ende 2009 ist es wieder auf 9,3 Prozent gestiegen, obwohl es bei den Löhnen, Pensionen und Sozialleistungen nur Abstriche gab. Wer hat also zu diesem irrsinnigen Anstieg des Defizits beigetragen? Klar, das Geld floss zum Großteil in die größeren Konzerne und Banken. Und nun wollen sie bis 2013 das Defizit auf etwa drei Prozent absenken, indem sie beim öffentlichen Dienst oder beim Sozialsystem weiterkürzen. Wir sind ja nicht dagegen, die staatlichen Ausgaben zu senken, wir haben aber einen ganz anderen Ansatz.
Die CGTP hat ein eigenes Konzept zur Senkung des Defizits?
Wir befürworten kleinere Schritte und eine Frist bis 2017. Auf diese Weise müssten weniger Opfer gebracht werden, und der Staat hätte die Möglichkeit, mit Investitionen die Wirtschaft anzukurbeln und den Konsum zu fördern. Doch mit dem jetzt eingeschlagenen Weg wird der Konsum noch weiter gemindert. Die Ratingagenturen ­haben ja bereits verkündet, dass die Maßnahmen zu einer Rezession führen würden. Das eine passt mit dem anderen nicht zusammen.
Gespart werden müsste demnach schon?
Es gibt Momente, in denen die staatlichen Ausgaben tatsächlich gesenkt werden müssen. Doch das kann nicht ständig zu Lasten der ärmeren Gruppen der Gesellschaft geschehen. Der Staat gibt enorme Mengen Geld für Luxusgüter, Autos und den Regierungsapparat selbst aus. Er bietet zudem kostenlose Dienstleistungen für private Konzerne an. Diese Recherchen und Studien, die von qualifiziertem Personal in den Ministerien für externe, private Firmen erstellt werden, sind sehr kostenintensiv. Hier gibt es große Einsparpotentiale. Außerdem gibt es viele öffentliche Bauprojekte, die letztlich immer viel mehr kosten, als ursprünglich vorgesehen war. Mit einer strengeren Kontrolle könnte das verhindert werden.
Das klingt eher nach einem politischen Programm als nach einer gewerkschaftlichen Strategie.
All diese Vorschläge gehören zur gewerkschaftlichen Strategie. Wenn man zu Kämpfen aufruft, seien es Arbeitskämpfe, Demonstrationen oder ein Generalstreik, ist es sehr wichtig zu zeigen, dass man nicht nur gegen etwas ist, sondern auch Alternativen anzubieten hat. Wir glauben auch, dass der Kapitalismus für die Menschen nicht gut ist, weswegen wir für ein alternatives Wirtschaftssystem kämpfen. Wir sagen aber auch, dass es zurzeit dringend notwendig ist, die produktiven Sektoren aufzubauen, um Beschäftigung zu schaffen. Genauso kämpfen wir gegen Prekarität und Zeitarbeit und für sichere Arbeitsplätze mit unbefristeten Verträgen. Wenn man noch die Kampagnen für die Erwerbslosen und Rentner hinzunimmt, ergibt sich ein breites gewerkschaftliches Betätigungsfeld mit verschiedenen Etappenzielen.
Wie will die CGTP den Sparmaßnahmen konkret entgegentreten?
Wir haben gerade den Aktionstag vom 29. September ausgewertet und über weitere Schritte beraten. Für den 24. November haben wir bereits einen landesweiten Aktionstag beschlossen und rufen zum Generalstreik auf. Zweifellos muss die Dimension des Kampfes gegen die Sparmaßnahmen gesteigert werden. Was hier stattfindet, ist Klassenkampf, und er wird in der kommenden Zeit intensiver werden.