Krav Maga, eine Kampfsportart aus Israel 

Wenn’s hart auf hart kommt

Gegen Angriffe des antisemitischen Mobs entwickelte Imrich Lichtenfeld in den dreißiger Jahren das Selbstverteidigungssystem Krav Maga, das mittlerweile weltweit verbreitet ist. In Deutschland fristet es eher ein Nischendasein.

Im dritten Hinterhof, im obersten Stock der Donaustraße 58 in Neukölln residiert die Kampfsportschule Choi. Unter dem Dach des Gewerbehofes trainieren etwa 170 Menschen Taekwondo, Kickboxen, Stockkampf und vor allem Krav Maga. »Krav Maga heißt Nahkampf, Kontaktkampf, also Selbstverteidigung aus nächster Nähe«, sagt Pascal Nagel, der Leiter der Sportschule. Krav Maga stammt aus Israel. Im Gegensatz zu Karate oder Judo ist es allerdings keine Kampfkunst. Auch als Kampfsport kann man Krav Maga nicht bezeichnen. Wettbewerbe gibt es nicht. Es ist ein reines Selbstverteidigungssystem. Sich schnell und effizient gegen einen Angriff wehren zu können, sei das Ziel, sagt Trainer Nagel. Es gibt keine Regeln, erlaubt ist alles, was effektiv ist – auch der Tritt in den Unterleib. Krav Maga benutze »Reflexe, weniger vorgegebene Techniken«, und sei deshalb leicht zu erlernen. Es sei einfach, realistisch, schnörkellos und gerade deswegen ideal geeignet für alle, die sich »draußen sicherer fühlen möchten«, meint Nagel.
Erfunden wurde Krav Maga von Imrich »Imi« Lichtenfeld, hebräisch »Sde-Or«. Das Leben des israelischen Großmeisters ist eng verbunden mit der Selbstbehauptung des Judentums. Der 1910 geborene Lichtenfeld wächst als Sohn eines jüdischen Polizeihauptkommissars in Bratislava auf. Gefördert von seinem Vater, betätigt sich der Junge im Schwimmen, Boxen, Gewichtheben, in Gymnastik und Akrobatik. Er wird mehrmaliger slowakischer Meister im Ringen und trainiert mit den Polizeirekruten seines Vaters Selbstverteidigung. Mitte der dreißiger Jahre werden auch in Bratislava faschistische Bewegungen stärker, es kommt zu Angriffen auf das jüdische Viertel. In dieser Zeit wird Lichtenfeld vom unbeschwerten Athleten zum entschlossenen Straßenkämpfer. Er leitet eine Gruppe junger jüdischer Sportler, die sich dem antisemitischen Mob entgegenstellt, wenn dieser ins Viertel einfällt. Statt sportlicher Höchstleistungen ist nun die geschickte Selbstverteidigung gefragt: Das ist die Geburtsstunde des Krav Maga.
1940 muss Lichtenfeld aus Bratislava fliehen. Der Schaufelraddampfer »Pentcho« ist das letzte Flüchtlingsschiff, das die Stadt verlässt. Nach einer halbjährigen Odyssee durch Europa und dem anschließenden Dienst in der tschechischen Legion der Britischen Armee wird Lichtenfeld 1942 entlassen und erhält eine Genehmigung zur Einreise ins britische Protektorat Palästina. Er schließt sich der zionistischen Wider­­standsbe­wegung Hagana an, trainiert ab 1944 verschiedene Elite-Einheiten der Bewegung und wird 1948 mit Gründung der israelischen Streitkräfte (IDF) Chefausbilder an der militärischen Kampfschule der IDF. Hier systematisiert er Krav Maga als zusammenhängendes Selbstverteidigungssystem für die Streitkräfte des entstehenden Staates Israel. Schnell und einfach sowohl den Elite-Soldaten als auch den Reservisten auf ein hohes Trainingsniveau zu bringen, ist sein Anspruch und im jungen, immer bedrohten Israel eine Notwendigkeit. Yitzhak Rabin, ehemaliger Premierminister Israels, gratulierte im Jahr 2001 Lichtenfeld posthum zu dessen Beitrag zu einem »muskelbepackten Judentum«.
Nach seiner Entlassung aus der IDF macht sich Lichtenfeld Ende der sechziger Jahre daran, Krav Maga an die Erfordernisse des zivilen Lebens anzupassen. In Tel Aviv und in seiner neuen Heimat Netanya gründet er dazu zwei noch heute bestehende Trainingscenter. Seitdem wird Krav Maga in Israel in Gemeinden und Schulen unterrichtet und trainiert, Ende der achtziger Jahre wird es dann von Lichtenfeld und seinen Schülern international verbreitet – mittlerweile gibt es Trainingscenter auf der ganzen Welt. Weltweit trainieren im militärischen Bereich Spezialeinheiten Krav Maga für den Nahkampf. In Israel und den USA werden aber auch Polizisten darin ausgebildet.
In Deutschland bieten mehrere Verbände in über 30 Städten Krav Maga an, bei der Bundeswehr ist es seit 2009 Bestandteil der Einzelkämpferausbildung an der Luftlandesportschule im bayrischen Altenstadt. Im Vergleich zu Taekwondo und anderen Kampfsportarten führt Krav Maga aber immer noch ein Nischendasein in Deutschland.
Getreu den Erfahrungen von Lichtenfeld wird auch heute unter möglichst praxisnahen Bedingungen trainiert. »Auf der Straße, in U-Bahn-Unterführungen, im Freien – alles, was der Realität nahekommt, ist unser Trainingsgebiet«, so beschreibt Trainer Nagel den Unterschied zu anderen Kampfsportarten. Die Krav-Maga-Techniken müssten auch unter Stress funktionieren, erklärt die Trainerin Diana Radnai. Damit man nicht in Schockstarre verfällt, wenn man tatsächlich angegriffen wird. Teil von Krav Maga ist auch ein mentales Training. »Selbst­bewusst aufzutreten, heißt, mich selbst zu schützen«, sagt Trainer Nagel. Im besten Falle könne durch bestimmtes und selbstbewusstes Auftreten und entsprechende Körpersprache bereits eine Konfrontation vermieden werden. Ziel von Krav-Maga-Training sei immer auch, sich charakterlich weiterzuentwickeln. »Wir wollen keine Schläger produzieren, aber die Netten müssen auch wissen, wie man auftritt, ­damit man nicht überfallen wird, damit man nicht Opfer wird«, resümiert Nagel. Im Unterschied zum militärischen Krav Maga müsse die Verteidigung zudem immer verhältnismäßig und im Rahmen geltender Gesetze erfolgen. Die Idealsituation sei schließlich, dass nicht gekämpft werden müsse. »Vermeidungstaktik« nennt Nagel das.
Das Krav-Maga-Training in der Sportschule Choi in Neukölln dauert 90 Minuten. Zu Beginn gibt es einen Aufwärmteil, bestehend aus Dehn- und Kraftübungen. Dabei zählt nicht, »ob man 100 Liegestützen kann«. Vielmehr gehe es darum, seinen eigenen »Körper bewegen und kennen zu lernen«, erklärt Nagel. Trotzdem kräftigt das Krav-Maga-Training: »Da gibt’s manche Leute, die kommen mit dünnen Ärmchen hier hin und das ändert sich dann ganz schnell – deswegen bin ich auch hier«, sagt ein Trainingsteilnehmer. Danach werden verschiedene Krav-Maga-Techniken paarweise, in Gruppen oder am Schlagpolster und mit Pratzen geübt. Schlag- und Tritttechniken, das Blocken und Abwehren von Angriffen, Kampftaktik gegen mehrere Angreifer, Verteidigung gegen Würgeangriffe und auch Bodenkampf. Im letzten Teil des Trainings gibt es dann noch mal eine gemeinsame Übung, um das Erlernte anzuwenden, sich noch mal auszupowern und gemeinsam das Training zu beenden.
Wissenschaftler, Auszubildende, Kellnerinnen und auch Polizisten trainieren in der Sportschule Choi. Krav Maga sei »für jedermann und jede Frau gedacht, die einfach auch arbeiten müssen und wenig Zeit haben zu trainieren, aber sich selber schützen wollen«, sagt Nagel. Das Geschlechterverhältnis in der Sportschule liege bei ungefähr 70 Prozent Männern und 30 Prozent Frauen, berichtet Trainerin Diana Radnai. »Viele Frauen haben Berührungsängste«, sagt sie. »Gerade für Frauen ist es wichtig, sich zu trauen zuzuschlagen.« Heike und Kat­hrin, 19 und 17 Jahre alt, sind zum ersten Mal beim Training. Sie sind Auszubildende in Neukölln. »Ich wurde schon zweimal verfolgt, von zwei Männern, und das war mir schon unheimlich«, sagt Heike. »Damit man, wenn’s hart auf hart kommt, wirklich mal was hat«, so fasst Kat­hrin die Motivation der jungen Frauen zusammen, jetzt Krav Maga zu trainieren. Der 18jährige Adil aus Wilmersdorf ist schon seit zwei Monaten mit dabei. Er ist Bruce-Lee-Fan, zusammen mit einem Freund hat er das Training angefangen, um »was für die Straße zu lernen«.
In der Sportschule können junge Frauen ab 16 mit dem Training beginnen, Männer ab 18. Zusätzlich gibt es einmal die Woche die Krav-Maga-Junior-Class für Jugendliche ab 12 Jahren. »Wenn ich von der Schule komme, bin ich meistens sehr gestresst, da brauche ich was, damit ich mich auspowern kann«, erzählt die 14jährige Esther aus Britz. »Es macht Spaß und ist nicht wirklich aggressiv.« Der älteste Trainingsteilnehmer ist übrigens 67 Jahre alt.
Krav Maga sei für die »unruhige Welt von heute« konzipiert worden, schreibt der 1998 verstorbene Imi Lichtenfeld in seinem Handbuch. Als grimmig, aber nicht kriegerisch haben Biographen ihn beschrieben. Seine Selbstverteidigung wolle Schutz gegen Angriffe bieten, egal ob die Motivation des Angreifers kriminell, nationalistisch oder anderweitig ist, schreibt Lichtenfeld.