Über den Park von Neukölln: die Hasenheide

Einmal umrühren, bitte

Neukölln hat nicht nur große Probleme, sondern auch einen großen Park: die Hasenheide. Jürgen Kiontke berichtet von einer vergessenen Landschaft voller Kinderwagen, Dealer, Jogger, Nackter und Zivilbeamter

Neukölln ist der zweitbekannteste Stadtteil Deutschlands, genauer gesagt der Norden Neuköllns. Angeblich scheitern hier sämtliche Integrationsbemühungen, und alle Bewohner verkaufen Drogen und beziehen Hartz IV. Oder machen beides. Halb Neukölln spricht Arabisch, 50 Prozent der Neuköllner sitzen im Gefängnis. So lauten die ortsgängigen Klischees.
Gleichzeitig zieht der Stadtteil im Berliner Süden seit zwei Jahren die Bachelor-Absolventen aus ganz Europa an. Denn in Neukölln lässt es sich gut selbstverwirklichen sowie Kinder auch ganz ohne Kopftuch züchten. Und in London, Paris und Prenzlauer Berg kann kein Mensch mehr die Miete bezahlen. Französische Kneipen machen auf, die Leute sprechen Englisch und Italienisch beim Einkaufen, hinter wie vor dem Tresen.
Im Norden grenzt Neukölln an zwei Areale. Zum einen Kreuzberg, das sich in einen Bioladen-Kosmos verwandelt hat. Zum anderen an die Hasenheide. Das ist ein großer innerstädtischer Park, in dem die Leute sitzen, walken, rennen, grillen, Fußball spielen. Es gibt ein Froschbiotop, dessen kleiner See gar zum Nudistenzentrum avanciert ist.
Am Wochenende brummt der Laden, das Volk zieht ganz großstädtisch ins Grüne, schaukelt den Kinderwagen über die Wege und lässt sich gemütlich in einem Kiosk namens »Hasenschänke« volllaufen, der aussieht wie eine Tankstelle aus den fünfziger Jahren. Die Hasenschänke ist very old school-Neukölln, da konnten die neuen Bevölkerungshorden noch keinen Bionade-Tempel platzieren. Es gibt sie noch, die Spuren des alten Westberlin, wenn auch nicht mehr allzu viele. Die Hasenschänke gehört auf jeden Fall dazu.
In Neukölln lebt ein Bevölkerungsgemisch, das aus annähernd 200 Ländern kommt, sage und schreibe 7 000 Menschen pro Quadratkilometer. Und diese Bevölkerungsstruktur spiegelt sich auch in diesem Park wider: An der einen Ecke steht eine Moschee, die ihre Türme um acht Meter höher dem Himmel entgegenreckt, als es die Bauverordnung jemals vorsah. Am anderen Ende entsteht ein hinduistischer Tempel. Fazit: Hier ist keiner integriert. Man ist arm. Hasenheide, das Areal im Mittelpunkt aller Sarrazin-Diskussionen.
Die Leute, die außenrum wohnen, lieben diesen Park. Was Wunder, dass sich auch die Künstler von ihm inspirieren lassen. Eine von ihnen, die Filmkritikerin und Journalistin Nana Rebhan, ist mit der Kamera losgezogen und hat einen kleinen Film über ihn gemacht. »Berlin: Hasenheide« heißt das 72-minütige Reportagewerk, in dem die Ecken des Hasenrasens samt seiner Bewohner gefilmt werden.
Als da wären: Hundefrauchen und Fußballspieler, Türken und Nudisten, echte Papageien und weniger echte andere komische Gesellen. Da sind Hampelkinder unterwegs, die Breakdance können, die Qi-Gong-Gruppe, die Frau mit dem Strohhut. Eine türkische Rentner-Band rockt die Gänseblümchen, der afrikanische Fußballkapitän sagt über seinen Kumpel: »He’s a good Verteidiger.«
Tore aus Mülleimern, Landschaftsaufnahme, Hundeauslaufgebiet. Fußball, Fußball, Fußball, Jogger, Jogger, Jogger – dieser Film präsentiert zum Einstieg ein paar stille Bilder zum Eingewöhnen in die Kleintier-Idylle.
Erster Eindruck: Die viele Luft über dem Kopf steht den Leuten so weit ganz gut. Denn es gibt in Berlin wenige offene Plätze. Eine Stadt besteht im großen Ganzen aus Häusern und Straßen. Fußballplätze sind hier aus grün gefilztem Beton. Natürlich ist auch der Park in gewisser Weise die Simulation von Natur. »Man muss für jedes Wetter gerüstet sein«, heißt es einmal im Film. Was soll’s, Hauptsache, die Farbe stimmt.
Über jenes Naherholungsgebiet erzählt ein Zeitzeuge: »Früher waren hier die Arbeiter in den Eckkneipen. Das waren noch Leute, mit denen man richtig reden konnte. Die sind aber weggezogen. Jetzt wohnen hier nur die sozial Schwachen. Aber Neukölln verändert sich. Es ist explosiv und lebendig. Wer früher Geld hatte, ist abgehauen. Nun aber kommen die Leute wieder. Man muss sich die Areale wiedererobern.«
Die Nackten kommen zu Wort. Goldkettchen um den Bauch, haben sie sich einen aufblasbaren Pool mitgebracht, in dem sich gut plantschen lässt, und dann schnell mal einen Spruch rausgehauen: »Wie kriegt man Sperma aus dem Swimmingpool?« Antwort: »Rühren.«
Weiter geht’s, die Inge Meysel, die sei auch Nudistin gewesen, jawoll. »An Nacktheit ist nichts würdelos. Es geht um die Achtung des menschlichen Freiraums.«
Auf die muslimischen Mitbürger, die im Park unterwegs seien, könne man leider keine Rücksicht nehmen. »Die kommen hier mit ihren Kopftüchern durch und schütteln die Birne.«
Nacktheit sei okay, es habe eine nivellierend gesellschaftliche Wirkung. »Man sieht Nackten nicht an, ob sie Geheimagenten sind oder arbeitslos.«
Man rufe dieses Areal hier auch die »Hartz-IV-Wiese: Die Leute sitzen nackt hier rum, damit ihnen keiner in die Tasche greift.«
Die Nackten und der Islam sind hier Nachbarn. Man lagert ums Wasserloch, eine durch und durch natürliche Anwendung. Man kann »Berlin: Hasenheide« als Lehrfilm sehen: der Mensch in seiner natürlichen Umgebung.
Überhaupt haben die Menschen in der Hasenheide einen einschlägigen Humor. Ein Hundebesitzer, dessen Schäferhund gerade auf dem Rücken liegt, erklärt: »Das ist die St. Pauli-Stellung. Auf dem Rücken und Beine breit.« Kann man von Hunden etwas lernen? »Ja, menschliches Verhalten kann man nicht auf Hunde übertragen. Ein Hund wird nie unanständig sein.«
Rebhans Film beweist dabei auch in spezieller Weise historischen Wert. Er zeigt ein Berlin, das es so immer weniger gibt, wenigstens an dieser Stelle: Die Welt und die Menschen, die gezeigt werden, sterben aus. Die Veränderungen sind unübersehbar. Die Hundebesitzer sammeln die Scheiße ihrer Lieblinge ein. Alle meckern über die Drogendealer, die im Park rumstehen, sogar die Drogendealer selbst. Der Film verfällt zuweilen etwas ins Bürgerlich-Betuliche.
»Berlin: Hasenheide« operiert aber auch auf einer Bruchlinie – in ihm befindet sich Neukölln am Anfang des Weges vom farblosen armen Viertel hin zur international besetzten Mittelklassewelt – was mit einem einfachen produktionstechnischen Detail zu tun hat: Große Teile des Films sind bereits vor drei Jahren gedreht worden, der Film aber konnte erst jetzt fertiggestellt werden. Von der ganzen Gentrifizierungsdebatte aber, den längst nicht abgeschlossenen Transformationen des Stadtgebietes und seiner Einwohnerschaft ist Rebhans Film daher noch nicht gar so gefärbt.
Die größeren Veränderungen gibt es erst seit 2008: Mietensteigerungen, Altenvertreibung, junges bürgerliches Publikum, die ganze Kunst mit ihren Ateliers, die Massen von Kneipen, all dies ist erst später entstanden. Einmal anrühren, bitte.
Hat der Film »Berlin: Hasenheide« etwas zu sagen? Womöglich: Wenn in Berlin ein Sack Reis umfällt, ist es Kultur. In Stuttgart müssen sie schon einen schönen neuen Bahnhof wegdemonstrieren, wenn sie mal in die Nachrichten wollen.
Achtung, bitte – das ist nicht nur ironisch gemeint: In der Hauptstadt werden Trends gesetzt. Die Kinderwagen, die die Mütter in Berlin fahren, die werden überall gefahren. Die Kneipenbestuhlung, die hier steht, wird überall den Rücken drücken. Und die Stadtteilpolitik, die hier gemacht wird – wie mit dem Neuen im ­Alten umzugehen ist –, dürfte unter Umständen vorbildlich sein. Nehmt euch Kameras, filmt eure Parks.

Berlin: Hasenheide (D 2010). Regie: Nana Rebhan. ­Bereits angelaufen