Proteste gegen die Sparmaßnehmen der Bundesregierung

Wo war der Herbst?

Die schwarz-gelbe Regierung wird Ende November das sogenannte Sparpaket im Bundestag verabschieden. Widerstand ­gegen die Sparpolitik ist bisher kaum wahrnehmbar.

Demonstrieren ist wieder en vogue, vernimmt man aus den deutschen Medien. Das Jahr 2010, so zeigten die Proteste gegen »Stuttgart 21« und die Atompolitik, habe eine neue Lust am politischen Protest zum Vorschein gebracht, mit dem die Bürger eine aktivere Rolle in der Demokratie suchten. Einige Kommentatoren fürchteten sogar, dass die Grenzen demokratischer Mitbestimmung übertreten würden, wenn parlamentarisch getroffene Entscheidungen nicht respektiert werden. Angesichts der Rede von der »Protestrepublik« könnte man meinen, der viel beschworene »heiße Herbst« habe stattgefunden. Doch wahrscheinlich zeugen die Proteste weniger von heftigen Auseinandersetzungen als davon, wie grabesstill es sonst in Deutschland zugeht. Gewöhnt an den so handzahmen deutschen Michel, neigt mancher Zeitgenosse offenbar zur Drama­tisierung, sobald er Unmutsregungen vernimmt, die über die berüchtigten »Berufsdemonstranten« hinausgehen. Denn eigentlich vollzieht sich der Protest in Deutschland in recht moderaten Formen, und von umfassendem Widerstand gegen die Regierungspläne kann auch nicht die Rede sein. War es nicht etwa der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, der großspurig den »heißen Herbst« gegen die Sparpolitik angekündigt hatte? Gerade seine Organisation jedoch strahlt nicht gerade Tatendrang aus.

Es ist bezeichnend, dass vor allem die Proteste an Dynamik gewonnen haben, aus denen sich der DGB tunlichst heraushält. In seinem eigenen Zuständigkeitsbereich, auf dem Gebiet der sozialen Frage, lässt sich eine solche Dynamik nicht finden. Zwar finden auch die dezentralen »Aktionen« des DGB – in der Regel Kundgebungen – und die Großdemonstrationen, etwa in Hannover und in Stuttgart, Beachtung in den Medien, für sonderliche Erregung sorgen sie aber nirgends. In Hannover demonstrierten vor zwei Wochen etwa 15 000 Menschen, in Stuttgart protestierten am Samstag voriger Woche 45 000 Menschen gegen die Sparpolitik der Bundesregierung. Im Vergleich zu den Gewerkschaftskämpfen in Frankreich, die das Ausmaß einer Revolte annahmen, aber auch den immerhin eintägigen Streikakti­onen in Spanien oder Griechenland, werden die DGB-Proteste als nüchtern und symbolisch aufgefasst. Als ob jeder wüsste, dass sie nur pro forma stattfinden.
Eigentlich sollte das nicht überraschen. Gewerkschaftlichen Widerstand gegen sozialen Regress kündigte Sommer nicht zum ersten Mal an. Die darauf folgenden Aufrufe zum Protest mit Sonntagsreden und Verköstigung geben vielen Linken stets Anlass zum Fremdschämen. So ermüdend wie die Prozessionen wirken die immer gleichen Parolen, die man auf Fahnen, Schirmmützen und Plastiküberziehern trägt: »Das geht anders« – »Für gerechte Politik« – »Wir brauchen einen Kurswechsel«. Das Werk der DGB-Verseschmiede ist dabei sinnbildlich für die Seichtigkeit ihres Widerstands: Mit einem rein appellativen Protestzeremoniell versuchen sie die politische Stimmung zu beeinflussen.
Dabei besitzen gerade Gewerkschaften die Fähigkeit, realen ökonomischen Druck gegen politische Vorhaben entwickeln zu können, wie sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart anderer Länder zeigt. Schließlich wirken sich Sozial- und Arbeitsmarktgesetze unmittelbar auf die Lage der Lohnabhängigen aus, deren Interessen die Gewerkschaften zu wahren haben – nicht nur tarifpolitisch. Im DGB-Apparat sieht man ein solches politisches Mandat der Gewerkschaften nicht gegeben. Wie Sommer bereits vor den Herbst­aktionen in der Tagesschau erklärte, könne man nicht mit gewerkschaftlichen Mitteln Entscheidungen korrigieren, die das Resultat von Wahlen seien. Betriebsversammlungen gelten ihm deshalb schon als Nonplusultra gewerkschaftlicher Aktionen. Und so beschränkt sich der DGB weitestgehend auf das Mittel des bürgerlichen Protests, von dem auch aufmüpfige Schwaben und die Atomkraftgegner Gebrauch machen. Doch im Gegensatz zum DGB stellen diese sehr wohl die demokratische Legitimität parlamentarischer Entscheidungen in Frage – und eröffnen damit einen gewissen Raum für politische Dynamik.

Über die Frage demokratischer Legitimation ist in der Debatte um die Bürgerproteste viel diskutiert worden. Während zahlreiche Politiker argumentieren, Politik dürfe nicht »auf der Basis von Umfragen« gemacht werden, sondern müsse »auf Wahlen und demokratischen Entscheidungen in Parlamenten« gründen, so Stefan Mappus (CDU), verweisen Bürgerinitiativen auf die Unterhöhlung demokratischer Prozesse durch die Einflussnahme der Wirtschaft. Tatsächlich löste das Beispiel der hartnäckigen Stuttgarter Demonstranten und der sie gleichermaßen ignorierenden Landesregierung einen fast schon subversiven Impuls aus: Verschiedene Umfragen kamen zu dem Ergebnis, dass die Ereignisse bundesweit das »Vertrauen« der Bürger in die Politik schwer erschüttert hätten. Ohne Frage gründet die Dynamik der Stuttgarter Proteste und die gewachsene Bereitschaft zur Konfrontation maßgeblich auf dieser allgemein wahrgenommenen Diskrepanz. Dadurch haben die Proteste in Stuttgart durchaus Züge einer direkten Aktion angenommen, weil sie einen sehr konkreten Bezug haben und eine stetige Mobilisierung gelingt. Das Netzwerk der Gewerkschaftslinken kommt in Hinblick auf Stuttgart nicht umhin festzustellen: »Man stelle sich vor, die Gewerkschaften hätten in der Vergangenheit mit einer ähnlichen Entschlossenheit (…) gekämpft. Das politische Klima und das Kräfteverhältnis wären in ganz Deutschland völlig verändert.«
Wie effektiv solche Proteststrategien wirklich sein können, wenn sie sich gegen Großprojekte richten, die zum Kern der vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Agenda gehören, wie etwa die Sparpolitik, bleibt dennoch fraglich. Demonstrationen sind seit den achtziger Jahren derart inflationär geworden, dass selbst große Massenversammlungen nur schwer die Beachtung der Medien finden. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als effiziente Bürgerproteste ihre Dynamik aus der Verschiebung politischer Koordinaten gewinnen, wie etwa im Wendland oder in Stuttgart, wo konservative Regionen zu Zentren des Protests wurden. Die Medien übernehmen dabei als Katalysator eine wichtige Funktion. Im Fall von Stuttgart war es die Beharrlichkeit und das große soziale Spektrum der Demonstranten, die die Proteste für die Medien interessant machten; bei den Anti-Atom-Protesten wiederum sorgen militante Aktionen immer wieder für spektakuläre Bilder.
Vor allem sind solche Proteste, auch wenn sie Elemente direkter Aktion enthalten können, weitestgehend indirekt und laufen darauf hinaus, dass sich politische Koordinatenverschiebungen in Wählerbewegungen übersetzen, wie das aktuelle Beispiel des Erfolgs der Grünen bei Umfragen verdeutlicht. Auch der DGB gerät mit seinen Protesten gegen die »soziale Schieflage« in diese Abhängigkeit. Anders aber als bei den Themen »Stuttgart 21« und Atompolitik, wo die Regierungsparteien tatsächlich um Teile ihrer Kernwählerschaft fürchten müssen, verfügen die Gewerkschaften nicht über ein solches Druckpotential. Die DGB-Mitgliedschaft, vor allem die aktive, ist nach wie vor überwiegend mit der Sozialdemokratie verbunden. Für die Regierungsparteien ist die Klientel des DGB ein ohnehin verloren gegebenes Wählerpotential.
Gleichzeitig treffen Proteste heute auf einen anderen Typus von Politikern. Diese Generation ist von der Logik der Notwendigkeit besessen. Sie sind bereit, unliebsame Entscheidungen zu treffen, und im Bewusstsein, dass sich die Karriere nach der Abwahl oder dem Rücktritt etwa in der Wirtschaft fortsetzen lässt, nehmen sie Einbußen im politischen Prestige in Kauf. Zahlreiche Lebensläufe von Politikern von heute zeugen davon. Hessens Innenminister Volker Bouffier (CDU) brachte diese Einstellung nochmals auf dem Hessischen Unternehmertag Mitte Oktober in Wiesbaden zum Ausdruck, als er, konfrontiert mit Protesten des Sozialrevolutionären Krisenbündnisses aus Frankfurt, erklärte, er wolle sich später nicht sagen lassen, er sei im Angesicht einer allgegenwärtigen »Protestindustrie« zu »feige zum Handeln« gewesen. Proteste werden folglich »ausgesessen«, wie es einst Klaus Wowereit (SPD) formulierte. Zumindest in Stuttgart hat das nicht funktioniert. Die laufenden Schlichtungsgespräche könnten nun aber die Dynamik brechen.

Entscheidend für den Erfolg und die Wahrnehmung eines Protests bleibt jedoch die Frage der Qualität. Spätestens seit den Demonstrationen gegen die »Agenda 2010« ist gewiss, dass große und regelmäßige Proteste nicht genügen, um zentrale Gesetzesvorhaben zu verhindern. Selbst in Stuttgart verwiesen Gewerkschaftslinke darauf, dass die Proteste nur durch Streiks eine neue Qualität gewinnen könnten. Die regionalen DGB-Verbände stellten sich jedoch bisher taub und wollten sich bei ihrer Demonstration des Themas »Stuttgart 21« nicht annehmen, obwohl sich die S21-Gegner am Samstag voriger Woche dem Protest des DGB gegen die Sparpolitik der Bundes­regierung bereitwillig angeschlossen hatten.
Ebenso zeigen die Auseinandersetzungen in Frankreich, dass selbst ein beachtlicher ökonomischer Druck unzureichend sein kann. Aber von diesem Niveau des Widerstandes, der deutliche Züge eines Klassenkampfs trägt, sind die deutschen Gewerkschaften sehr weit entfernt. Sie stehen in der Tradition des sozialen Friedens und sorgen in den Betrieben für einen Geist des Gehorsams. Dass es in Deutschland kein politisches Streikrecht gibt, ist da noch das kleinste Problem. Das beweist auch die gegenwärtige Initiative des DGB und der Arbeitgeber in Sachen Tarifeinheit, gemeinsam das Streikrecht einschränken zu wollen, wobei der DGB-Vorsitzende selbst vor zu vielen Streiks in Deutschland warnt.
Es ist auffällig, dass es bei den energischen Kämpfen in Frankreich nicht um Bäume oder Bauprojekte ging, sondern um die Verteidigung so­zialer Errungenschaften. Dass sich die konsequenteren Proteste in Deutschland eher in anderen Bereichen zeigen, hat auch damit zu tun, wie die linke Bewegung allgemein konfiguriert ist. Die Entpolitisierung der Betriebe wurde hierzulande auch durch eine radikale Linke begünstigt, die diesen Bereich fast vollkommen aufgegeben hatte. Mit der Verlagerung auf andere Themenfelder und dem Rückzug in die eigenen Freiräume wurden auch die Betriebe von einem radikalen Impetus »befreit«. Dieser zeigt sich heute in Deutschland – welch Ironie – fast ausschließlich in der Sphäre des bürgerlichen Protests, wo eine Straßenmilitanz mal zur Abgrenzung von der gemäßigten Masse, mal zu deren Radikalisierung dient. Um die sozialen Kämpfe ist es hingegen schlecht bestellt.