Karl Brenke im Gespräch über mangelnde Arbeitskräfte und die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarktes

»Das regelt der Markt«

Die Arbeitgeberverbände warnen vor einem Fachkräftemangel. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) sprach im Oktober gar davon, dass sich die Lohnabhängigen aufgrund mangelnder Arbeitskräfte in manchen Bereichen künftig auf 45-Stunden-Wochen einstellen müssten. Angesichts dessen überraschte ein Bericht des als den Arbeitgebern nahestehend geltenden DIW, in dem der Arbeitsmarktexperte Karl Brenke schrieb, einen Fachkräftemangel gebe es nicht. Im Nachhinein wurde Brenkes Bericht vom DIW abgeschwächt. Etwa, weil Kritik an Positionen der Arbeitgeberverbände beim DIW unerwünscht ist?

Die Arbeitgeber klagen seit Monaten über einen angeblichen Fachkräftemangel. Sie sagen, diese Klagen seien nicht gerechtfertigt. Was sind die zentralen Indizien dafür, dass die These vom Fachkräftemangel unzutreffend ist?
Die Arbeitgeber klagen nicht seit Monaten, sie klagen seit Jahren, und sie haben sogar in der tiefsten Krise über Fachkräftemangel gejammert. Meiner Meinung nach ist das unberechtigt. Zunächst kann man das an der Entwicklung der Löhne sehen. Sie sind kaum gestiegen – auch nicht bei Personen, die in den Betrieben höhere oder mittlere Positionen innehaben. Und die Lohnentwicklung war bei den Fachkräften nicht besser als bei den weniger Qualifizierten.
Des Weiteren kann man sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ansehen, und da stellt man fest – etwa bei Fachkräften im naturwissenschaftlich-technischen Bereich –, dass heute die Beschäftigungszahlen immer noch geringer sind als vor der Krise. Entsprechend gibt es in den jeweiligen Berufen höhere Arbeitslosenzahlen und spiegelbildlich dazu eine geringere Zahl an offenen Stellen. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich zwar in den letzten Monaten etwas entspannt, aber wir sind gerade bei der Industrie von dem Beschäftigungsniveau, das es vor der Krise gab, noch weit entfernt.
Drittens muss man ja auch die Ausbildungs­situation berücksichtigen. Es wird immer davor gewarnt, dass sich der Bedarf an Fachkräften kurzfristig verstärken könnte. Schaut man aber auf die universitäre Ausbildung, stellt man fest, dass es einen regelrechten Run auf die Universitäten und insbesondere auf die ingenieurwissenschaftlichen Berufe gibt. In den Universitäten wird derzeit enorm viel ausgebildet, sodass ich fast befürchte, dass wir demnächst eine Fachkräfteschwemme haben werden. Und bei der betrieblichen Ausbildung sieht es aus wie üblich: In der Krise wird die Ausbildung zurückgefahren. Das konnte man auch jüngst wieder beobachten, und die Ausbildungsbereitschaft ist aktuell noch nicht wieder so hoch wie vor der Krise.
Die Regierung sieht dennoch Handlungsbedarf, um den angeblichen Fachkräftemangel zu bekämpfen. Könnte man hier nicht ganz zurecht sagen: Dieses Problem regelt der Markt?
Natürlich könnte das der Markt regeln. Deshalb stellt sich schon die Frage, weshalb die Politik meint, intervenieren zu müssen. Der Markt regelt das über die Preise, auf dem Arbeitsmarkt sind das die Löhne, und hier können wir feststellen, dass sich die Löhne kaum entwickelt haben. ­Offenbar gibt es diesen Mangel also gar nicht. Zudem darf man den Blick natürlich nicht nur auf den deutschen Arbeitsmarkt richten. Die Europäische Union ist auch ein großer Arbeitsmarkt. Es gibt überhaupt keine Hemmnisse, die verhindern würden, dass ein Ingenieur, der etwa in Spanien arbeitslos wird, sich in Deutschland einen Job sucht. Im Mai nächsten Jahres wird der interne Arbeitsmarkt der EU noch erweitert, die Freizügigkeitsregelung tritt für die osteuropäischen Länder in Kraft, insofern können dann auch Arbeitssuchende aus diesen Ländern auf dem deutschen Arbeitsmarkt tätig werden.
Die Bundesarbeitsministerin plant dennoch, den Arbeitsmarktzugang für ausländische Fachkräfte in manchen Branchen auch durch den Wegfall der sogenannten Vorrangprüfung zu erleichtern. So kritikwürdig die Vorrangprüfung auch ist: Geht es dabei nicht auch darum, zu verhindern, dass die Löhne der Facharbeiter in Deutschland steigen?
Natürlich besteht dieses Interesse. Je größer das Fachkräfteangebot auf dem Arbeitsmarkt ist, desto geringer können die Lohnforderungen der Gewerkschaften oder einzelner Arbeitnehmer ausfallen. Das verweist auf das altbekannte Theorem der »industriellen Reservearmee«.
Ist der deutsche Arbeitsmarkt für ausländische Arbeitskräfte überhaupt attraktiv?
Die Frage stellt sich: Es ziehen immer mehr qualifizierte junge Leute aus Deutschland weg, weil sie offenbar auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht unterkommen oder nur zu Löhnen, die für die Abwanderer wenig akzeptabel sind. Und auf der anderen Seite haben wir die Klagen der Unternehmer und der Bundesregierung, die derzeit auch fordert, die Mindesteinkommensgrenzen für ausländische Arbeitnehmer von 66 000 Euro Jahresverdienst deutlich auf 40 000 Euro abzusenken. Mindestens 40 000 Euro brutto bekommt allerdings mehr als die Hälfte der Vollzeitbeschäftigten in Deutschland. Das sind Löhne im Bereich von Facharbeitern.
Immerhin hat die Diskussion um den Fachkräftemangel positive Effekte: Die politische Bereitschaft, mehr in Bildung zu investieren und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt abzubauen, ist gewachsen. Sie warnen hingegen, es könne zu einer »Fachkräfteschwemme« kommen. Was wäre daraus zu folgern? Etwa gar, dass der Staat weniger Geld für Bildung ausgeben soll?
Nein. Aber wenn es dazu kommt, dass der Arbeitsmarkt weiter geöffnet wird und dort mehr als reichlich Fachkräfte zur Verfügung stehen, könnte das dazu führen, dass das heimische Erwerbs­potential links liegen gelassen wird. Das fängt bei der Bildung an. Warum sollten Unternehmen ausbilden, wenn sie die benötigten Fachkräfte auch so auf dem Markt finden? Warum sollten die Unternehmen die Arbeitsbedingungen verbessern oder Geld für Weiterbildung ausgeben, so dass die Arbeitskräfte länger im Erwerbsleben bleiben? Warum sollten sie, bei reichlich Fachkräften, Frauen bessere Beschäftigungs- und Aufstiegschancen eröffnen? Überdies: Wir haben noch viel zu viele Arbeitslose.
Klaus Zimmermann, der Präsident des DIW, hat Ende Oktober gesagt, dass »37,5- oder 38-Stunden-Wochen« »vorbei« seien und die »effektive Arbeitszeit bis auf 45 Stunden pro Woche steigen« könnte. Angesichts dessen überrascht, dass Sie nun sagen, eine Grundlage für diese Aussage gebe es gar nicht.
Generell kann man sagen: Je höher die Qualifikation, desto länger sind die Arbeitszeiten. Bei gut qualifizierten Arbeitskräften liegen die ohnehin meist bei über 40 Wochenstunden, insofern ist die Frage der Arbeitszeiten bei den Fachkräften eher auszuklammern. Und die Arbeitszeiten können nicht isoliert von der Frage nach dem künftigen Erwerbspersonenpotential erörtert werden.
Ihr Wochenbericht hat im DIW offenbar etwas Aufregung verursacht. Nachdem Spiegel Online Ihren DIW-Wochenbericht bereits veröffentlicht hatte, wurde er im Hause des DIW dann noch erheblich abgeschwächt.
Nein, nicht erheblich, das kann man nicht sagen, das waren keine grundlegenden Änderungen.
Der Titel »Fachkräftemangel in Deutschland: eine Fata Morgana« wurde in »Fachkräftemangel kurzfristig noch nicht in Sicht« abgeändert.
Ich habe mich überzeugen lassen, dass der Titel unpräzise war, denn eine Fata Morgana ist ja der Widerschein von etwas Realem, und das hätte nicht zu meiner These gepasst, dass derzeit die These vom Fachkräftemangel nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Der Präsident Ihres Instituts hat am Schluss des Berichts noch einen Kommentar eingefügt, der das Gegenteil Ihres Berichts behauptet – nämlich dass Fachkräfte bereits knapp seien.
Den Kommentar will ich nicht kommentieren, ich beziehe mich nur auf meinen Bericht.
Klaus Zimmermann wird im Handeslblatt zitiert, es sei bei der Redigieraktion darum gegangen, »wissenschaftliche Qualität« zu garantieren – ging es nicht eher darum, Kritik an Arbeitgeberpositionen zu unterbinden?
Nein, darum ging es nicht. Der Einwand gegen die Überschrift war berechtigt, und dann habe ich bewusst das Thema Fachkräftemangel erst einmal mit Blick auf die nächsten vier oder fünf Jahre betrachtet. Wenn ich eine darüber hinaus gehende Prognose erstellen wollte, müsste ich anhand verschiedener Modelle Berechnungen anstellen, wie sich das Erwerbsverhalten in der Zukunft verändern könnte. Und man müsste auf längere Sicht auch die Qualifikation der nachwachsenden Generation berücksichtigen. Auch unter diesem Blickwinkel werde ich weiterhin an dem Thema arbeiten.