Sarah Leonors erster Spielfilm: »Au Voleur – A Real Life«

A Real Life

In ihrem ersten Spielfilm findet Sarah Leonor ruhige Bilder für den Ausstieg einer Aushilfslehrerin und eines Gelegenheitsdiebes aus dem prekären Alltagstrott.

Zu Beginn sieht man nichts als ein Paar Füße. Die Kamera folgt ihnen, wie sie zwischen Tischbeinen, Stuhlbeinen und ruhenden Fußpaaren umhergehen. »Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/und hinter tausend Stäben keine Welt.« Die Stimme und die Füße gehören der Lehrerin Isabelle (Florence Loiret Caille). Sie gibt Deutschunterricht irgendwo in einer Banlieue in Frankreich – diesmal geht es um das Gedicht »Der Panther« von Rainer Maria Rilke. Isabelle blickt, während sie die Verse auf Deutsch vorträgt, um sie von ihren Schülern übersetzen zu lassen, über die Kame­ra hinweg in die Ferne.
Nach der Arbeit trinkt sie in einer kleinen Bar einen Espresso. Als sie danach beim Überqueren des Zebrastreifens angefahren wird, stürzt Bruno (Guillaume Depardieu) zu ihr und beugt sich über die Ohnmächtige. Was aussehen soll wie das Messen ihres Pulses, ist in Wahrheit ein Versuch, ihr die Armbanduhr zu stehlen. Doch Isabelle erwacht und sieht Bruno. Zuvor haben wir Bruno beobachten können, wie er in einem Spind in einem verlassenen Hinterhof verschiedene Wertgegenstände deponierte, die später von einem anderen, offenbar wohlhabenderen Mann im Tausch gegen ein Bündel Geldscheine abgeholt worden sind: ein einfacher Geschäftsablauf, routiniert und ohne Worte. Viel geredet wird auch sonst nicht, die ruhigen Kameraeinstellungen geben der Mimik und Gestik der Figuren viel Raum.
Wie Isabelle wird auch Bruno bei seinem beruflichen Alltag gezeigt – beim Deponieren seines Diebesgutes für den Hehler. Bruno hinkt. Der Schauspieler Guillaume Depardieu, Sohn Gérard Depardieus, hat bei einem Motorradunfall ein Bein verloren und bringt hier seine eigene Versehrtheit ins Spiel, die sich auch in seiner Mimik niederschlägt. Auf die langjährige Dreh­erfahrung des 37jährigen hat die jüngere Sarah Leonor vertraut, und so ist »Au Voleur«, der hierzulande unter dem Titel »A Real Life« läuft, stark von Depardieus Interpretation der Rolle des Bruno geprägt. Es ist Depardieus letzter Film: Am 13. Oktober 2008, wenige Wochen nach Abschluss der Dreharbeiten, ist er an den Folgen einer Infektion gestorben. Die physische Eindrücklichkeit, mit der Depardieu marginalisierte, um ihre Existenz ringende Figuren dargestellt hat, prägt auch »Au Voleur« und macht den Film besonders sehenswert. Fast wirkt er wie eine Fortsetzung des vor kurzem in den Kinos gelaufenen »Versailles«, wo Depardieu einen Obdachlosen darstellt, der sich um ein fünfjähriges Kind kümmert.
Der prekäre Alltag, in dem sich Bruno bewegt, wirkt in »Au Voleur« manchmal etwas zu holzschnittartig. Das mag auch an den kargen Dialogen liegen – während die ungewöhnliche Beziehung zwischen Isabelle und Bruno sehr glaubwürdig dargestellt wird, geraten andere Kon­stellationen mitunter etwas oberflächlich: Der Nachbarjunge Ali (Rabah Nait Oufella), der Bruno bewundert, versucht sich am Knacken eines Zigarettenlagers. Zwei Autoschrauber, die gern Spritztouren mit einem geklauten Wagen machen, treten hinzu. Als sie bei ihm vor dem Haus herumhängen und Ali beeindrucken, rastet Bruno aus – er will nicht, dass Ali ihnen nacheifert. Vielschichtiger ist die Geschichte mit Manu (Jacques Nolot), einem Freund Brunos, der gerade aus dem Knast entlassen worden ist. Als Bruno ihn abholt, schildert ihm Manu in wenigen Sätzen die Schrecken der langen Isolationshaft: Er hat sich mit einer Gabel verletzt, um auf die Krankenstation zu kommen, denn »irgendwann brauchst du einen anderen Menschen, um zu spüren, dass du lebst«. Nach dieser Erfahrung sucht sich Manu legale Arbeit – aber Paletten abzuladen, das könne es doch nicht sein, erwidert ihm Bruno. Obwohl der gesellschaftliche Mikrokosmos, in dem Bruno sich bewegt, recht konventionell dargestellt wird, verleiht Depardieu dem Verhalten seiner Figur große Anschaulichkeit. Bruno erscheint als in seinen Lebensverhältnissen gefangen, seine Existenz ist eher melancholisch als heroisch. Wie die US-amerikanische Hobo-Musik, die seine Auftritte begleitet.
Etwas gerät in Bewegung, als Isabelle Bruno in der Bar anspricht, wo sie sich das erste Mal begegnet sind. Sie will ihm für seine Hilfe danken, er reagiert abweisend. Und doch kommen sie ins Gespräch. Sie erzählt ihm, dass sie seit Jahren als Aushilfslehrerin arbeitet, immer wieder an anderen Schulen. Er begleitet sie nach Hause. Die Zurückhaltung zwischen ihnen schwindet erst dann langsam, als Bruno von der Polizei gesucht wird. Die Autoschrauber haben sich in einem von ihm geklauten BMW ­erwischen lassen und ihn offenbar verpfiffen. Als Bruno jetzt bei Isabelle unterkommt, ist es ihm nicht mehr egal, wie sie ihre Tage verbringt. Isabelle wird in der Schule von Gendarmen angesprochen. Die wollen sie mitnehmen, um ihre Wohnung auf Spuren von Bruno zu untersuchen. Bei ihrer Flucht vor den Polizisten stößt Isabelle mit einem Schüler zusammen. Noch ganz im Beruf, herrscht sie ihn an, dass er zu spät komme. Sie rennt weiter, warnt Bruno per Mobiltelefon.
Die Verfolgungsjagd endet in einem Naherholungsgebiet vor der Stadt. Sie verstecken sich im Wald und entdecken von einer kleinen Brücke aus einen alten Lastenkahn an einem Fluss. Eine lange ruhige Kamerafahrt markiert einen Bruch im Film: Baumkronen voller Blätter, dazu ein ruhiges Lied von Woody Guthrie. Isabelle liegt in dem Kahn, blickt entspannt in den Himmel. Das Murmeln des Flusses über dem Kieselbett ist zu hören. Beide sind ihrem prekären Alltag für kurze Zeit entkommen. Dennoch sind die Naturbilder keine romantische Verklärung eines Naturparadieses oder eines ungebrochenen Pärchenglücks, sondern beziehen sich kritisch auf den Lebensalltag, aus dem sich die Figuren für kurze Zeit befreien. Keine Polizei, keine Einbrüche und Autoknackereien, keine triste Aushilfsarbeit. So unwirtlich Brunos und Isabelles Wohnungen in der Stadt sind – rein zweckmäßig, ohne Bilder an den Wänden –, so geborgen scheinen sie sich am Fluss zu fühlen. Wenn da nicht der Hunger wäre, und die Kälte, obwohl es Sommer ist im Film. Bei einem Landgang sieht Isabelle ein Reh. Bruno und Isabelle lachen, doch ihr Schreck bleibt erkennbar. Besonders bei Bruno, dessen Erschrecken, wenn Isabelle sich ihm heimlich nähert, auf tiefsitzende Ängste verweist. Der schönste Schreckmoment aber ist es, als beide in ein einsam gelegenes Haus einsteigen, um Essen zu stehlen. Als Isabelle ins Schlafzimmer geht, um eine Decke mitzunehmen, steht dort die Bewohnerin – beide schreien los, außer sich angesichts der Situation. Die Decke nimmt Isabelle dann trotzdem mit.
Im Wald und auf dem Boot lernen Isabelle und Bruno allmählich, einander zu vertrauen. Eines Abends schlägt Isabelle Bruno am Feuer vor, mit gefälschten Papieren ganz neu anzufangen, ein wirkliches Leben, a real life. Vielleicht bringt dieser Titel den Wunsch der Figuren, der nur als Kritik der Lebensverhältnisse verständlich ist, aus denen sie aus­gebrochen sind, besser auf den Punkt als der Originaltitel »Au Voleur«, »Haltet den Dieb«. Bruno ist skeptisch, ob a real life im falschen möglich ist.

»Au Voleur – A Real Life« (Frankreich 2009), 96 Minuten, Regie: Sarah Leonor, Darsteller: Guillaume Depardieu, Florence Loiret Caille, Jacques Nolot. Start: 16. Dezember