Die politische Krise in Italien nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen Silvio Berlusconi

Am Anfang war das Buch

Im Herbst besetzten italienische Studenten den schiefen Turm von Pisa, um »die Kultur zu verteidigen«, zuletzt kam es in Rom zu Straßenschlachten. Wer sind die Protagonisten der sozialen Proteste in Italien?

»Ce n’est qu’un debut«, es ist nur ein Anfang. Mit diesem Slogan der französischen Protestbewegung von 1968 beschreibt der linke Theoretiker Franco Berardi aka »Bifo« die Ereignisse in Rom am 14. Dezember. Er ist derzeit nicht der Einzige, der nach Definitionen sucht. Die Straßenschlachten an diesem Tag haben viele überrascht. Die Frust nach der Vertrauensabstimmung im Parlament hat sicherlich dazu beigetragen, dass die Situation auf den Straßen schnell eskalierte. Nur als spontaner Wutausbruch lässt sich die »Schlacht von Rom« jedoch nicht erklären.

Wer sind eigentlich die Protagonisten dieses Protests? Die Antwort fand ein Teil der Mainstream-Medien von ganz Rechts bis Mitte-Links ziemlich schnell, und so konnte ein Phantom, das vor fast zehn Jahren, nach den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua, verschwunden war, sein Comeback auf den Titelseiten der Zeitungen feiern: der schwarze Block. Hinter dem Gewalt­spektakel bewegen sich jedoch keine Gespenster, sondern in erster Linie Studenten und Schüler, die seit Monaten gegen die Hochschulreform der Regierung protestieren. Diese sieht unter anderem die Kürzung von Mitteln für Hochschulen und Stipendien vor und ist Teil des sogenannten Sparpakets, das bis Ende 2012 Kürzungen von rund neun Milliarden Euro im Bildungswesen vorsieht.
Im Herbst besetzten die Studenten symbolisch Monumente und Sehenswürdigkeiten wie den schiefen Turm von Pisa und das Kolosseum in Rom. Die ausländischen Touristen applaudierten, und auch in Italien wuchs die Sympathie für die bravi ragazzi, die in Fernsehinterviews darum baten, nicht als Unruhestifter abgestempelt zu werden, da sie dafür kämpften, »die Kultur zu verteidigen« – gegen die Pläne einer Regierung, die alles privatisieren und kapitalisieren wolle.
Die medienwirksamen Aktionen verwandelten sich schnell in Großdemonstrationen, die Schüler schlossen sich dem Protest an, Facebook und Twitter taten den Rest. Die Proteste in London ließen das Gefühl einer »europäischen Bewegung« aufkommen, in vielen europäischen Städten organisierten italienische Doktoranden und Erasmus-Studenten eigene Aktionen, um die Kollegen daheim zu unterstützen.
Eine neue, radikalere Phase begann, und mit ihr musste auch eine neue Symbolik her. Sie wurde mit den »literarischen Schildern« gefunden, die bei Demonstrationen als Schutz dienten. Auf selbst gebastelte, bunte Plastikschilder schrieben die Studenten Titel und Autoren ihrer Lieblingsbücher. Die Message dabei: »Kultur ist unsere einzige Verteidigung gegen die Kürzungen der Regierung im Bildungs- und Kulturbereich.« Auf ihren Schildern prangten Titel wie »Moby Dick«, »Don Quijote« oder »Die Dämonen«. Aber auch die italienische Verfassung und »Das Kapital«. Nach einer Umfrage der Gruppe Uniriot soll »Der Willen zum Wissen« von Michel Foucault der meistgewählte Titel gewesen sein. Diese bunte Form des Protests wurde als positiv wahrgenommen, und die Medien berichteten meist wohlwollend darüber. In den letzten zwei Novemberwochen gaben sich die Studenten nicht mehr mit Symbolen zufrieden. In Rom versuchten sie, in den Senat einzudringen, sie besetzten mehrere große Bahnhöfe und organisierten Autobahnblockaden. Bei den unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei erwiesen sich die poetischen Schilder als nützlich, und prompt erfand das Schriftstellerkollektiv Wu Ming (einst Luther Blisset, »Q«) einen eindrucksvollen Namen für diese neuen Militanten der Kultur: Der »Book-Block« war geboren.

Dann kam der Tag der Vertrauensabstimmung, der alles veränderte. Niemand wollte so recht glauben, dass die Besetzer von Monumenten und selbsternannten Verteidiger der »Kultur« auf einmal in bester Hooligan-Manier durch Rom ziehen würden. Was war bloß aus den bravi ragazzi geworden? In den ersten Berichten über die Ausschreitungen, vor allem in linksliberalen Medien wie La Repubblica, war diese Verwirrung spürbar. Reporter berichteten aus der »roten Zone«, auf der Piazza del Popolo oder in der via del Corso habe man keinen organisierten schwarzen Block gesehen, sondern unter anderem »normale Bürger«, die den Demonstranten begeistert applaudierten. Der Mythos des »anständigen Protests«, zu dem ein Teil der institutionellen Opposition bis dahin den Anschluss gesucht hatte, zerbröckelte. So tauchten in den ersten Analysen neben dem schwarzen Block die Agents provocateurs auf. Das hat Tradition in Italien.
Doch der Rückgriff auf diese Deutungsmuster sowie die Versuche altgedienter Helden der vergangenen sozialen Kämpfe, den heutigen Protest durch Begriffe wie »generalisierter Aufstand« oder »soziale Insurrektion« zu erklären, führen in die falsche Richtung. Das betonen die Protagonisten der Mobilisierung selbst, sehr junge Frauen und Männer, die 2001 noch Schulkinder waren. In unzähligen Erklärungen, die meist über die Netzwerke »Uniriot«, »Atenei in rivolta« und »Infoaut« auf Facebook verbreitet werden, widersprechen sie vehement den Darstellungen von den »guten« und den »bösen« Demonstranten. Der schwarze Block existiere nicht, betonen sie, und wenn doch, dann »sind wir alle der schwarze Block«. Für die ältere Generation, die die Proteste in Genua und die Spaltung der damaligen Bewegung, gerade an der Gewaltfrage, erlebt hat, ist diese Entschlossenheit erstaunlich.
Über die Zukunft dieser neuen Studentenbewegung wird ihre Fähigkeit entscheiden, Kristallisationspunkt für eine breitere soziale Opposition zu werden. Die Chancen stehen nicht schlecht, denn die soziale Lage ist in Italien explosiv. Pre­käre Arbeitnehmer, Metallarbeiter, Migranten, aber auch die vom Müll vergifteten Bürger von Neapel und die Bewohner des vom Erdbeben zerstörten L’Aquila artikulieren seit Monaten ihren Protest gegen eine Regierung, deren einzige Priorität das politische Überleben des Premierministers ist.