Über den Film »The Green Wave«

Märchen aus Blogistan

Warum die iranische »Twitterrevolution« eigentlich gar keine gewesen ist.

Negin Behkan ist noch ganz berührt von Ali Samadi Ahadis Film »Die grüne Welle«. Sie hat ihn bei einer Wohnzimmer-Preview zwei Wochen vor dem offiziellen Kinostart gesehen. »Der Film hat so viele Erinnerungen wachgerufen«, sagt Behkan. Sie ist nach den Unruhen von 2009 aus dem Iran geflohen, wo sie zuletzt für die reformorientierte Tageszeitung Bahar gearbeitet hat, und lebt heute als politischer Flüchtling in Berlin. Genau diese Zeit der Unruhe, im Iran besser bekannt als Mowj-e Sabz (»grüne Welle«), beschreibt der Film in einer eindrücklichen Collage aus Youtube-Videos, Interviews und anderen Bilddokumenten.
Freude empfindet Behkan angesichts der fröhlichen Aufbruchsstimmung während des ersten öffentlichen Auftritts von Mir Hussein Mousavi nach den Präsidentschaftswahlen 2009, bei dem ihm im Azadi-Stadion von Teheran Tausende Menschen zujubelten, Wut überkommt sie angesichts der Erklärung Mahmoud Ahmadinejads zum Wahlsieger am 12. Juni des gleichen Jahres. Bei den Bildern vom Amtsantritt Ahmadinejads und von der exzessiven Gewalt, die von den Basij-Milizen an Demonstranten verübt wurde, stehen ihr Tränen in den Augen.
So anschaulich der Film diese Eindrücke einfängt, so wenig erklärt er sie leider. Warum gehen Ende Mai 2009 plötzlich so viele Menschen für Mousavi auf die Straße? Wer ist der alte Mann mit dem Bart und der Nerdbrille, der immer mit Turban und Bademantel herumläuft und als der »oberste Führer« vorgestellt wird? Welches politische System wünscht sichder Taxifahrer, wenn er behauptet, der Präsident habe einen Job, »den auch jeder normale Soldat« erledigen könne? Der Film ist voller Anspielungen, die jeder Iraner versteht, die für Außenstehende aber schwer zu entschlüsseln sind. So hätten die Menschenrechtsanwältin Shadi Sadr, die Journalistin Mitra Khaltbari oder Mousavis Wahlkampforganisator Mehdi Mohseni etwa erklären können, welchen Zweck die Wahlen des Präsidenten oder des Parlaments im Iran überhaupt erfüllen. Sie sollen einerseits die Diktatur des religiösen Führers Ali Kha­me­nei verschleiern und andererseits eben doch eine gewisse Machtteilung innerhalb des politischen Establishments sicherstellen. Das mag im Iran jeder wissen, auch wenn man es so nicht sagen darf, im Ausland ist das nicht der Fall. Noch befremdlicher ist, dass auch der schiitische Kleriker Mohsen Kadivar oder der ehemalige Basij-Milizionär Amir Farschad Ebrahimi zu Wort kommen. Sie behaupten, Ahmadinejads Regime habe die »Werte der islamischen Revolution von 1979« verraten, als hätten er und Khamenei diese Werte nur falsch interpretiert und als sei die Islamische Republik eigentlich als demokratischer Rechtsstaat gedacht gewesen.
Ungewollt bedient der Film auch den Mythos von der »Twitterrevolution« durch die permanente Verwendung von Youtube-Videos, Blog-Einträgen und das Einblenden von Twittermeldungen, ohne zu erklären, welche Rolle das Internet im Iran vor, bei und nach den Unruhen spielte. Die Bezeichnung »Twitterrevolution« stammt von den westlichen Medien, weil diese überwiegend auf Twittermeldungen und Youtube-Sendungen zurückgreifen mussten, seit es ihren Korrespondenten nicht mehr erlaubt war, ihre Hotels zu verlassen. Auch für die Mobilisierung der iranischen Diaspora war das Internet wichtig.
Demgegenüber stellen die Kommunikationsforscher Annabelle Sreberny und Gholam Khiabany in ihrem 2010 erschienenen Buch »Blogistan – The Internet and Politics in Iran« fest, dass es kaum Beweise dafür gebe, dass Twitter, Facebook oder Youtube eine wichtige Rolle beim Organisieren von Demonstrationen gespielt haben. Tatsächlich hätten die Auseinandersetzungen auf den iranischen Straßen stattgefunden, und gerade in der Zeit der schwersten Auseinanderstetzungen nach Khameneis Rede vom 19. Juni war das Internet im Iran faktisch lahmgelegt. Sogar die Nutzung von Mobiltelefonen war zwischenzeitlich unmöglich. Wo aber das Mobilfunknetz funktionierte, waren mit dem Mobiltelefon verschickte Videos und Nachrichten tatsächlich ein wichtigeres Medium als Twitter. Diesen Nachrichten lag wohl in den wenigsten Fällen der Wunsch zugrunde, den Rest der Welt über die Situation im Iran zu informieren. Sie gelangten erst anschließend durch Twitter und Youtube an die Außenwelt. In diesem Zeitraum soll es unterschiedlichen Quellen zufolge höchstens 100 aktive Twitterer mit insgesamt etwa 5 000 iranischen Lesern gegeben haben, von denen nicht einmal klar ist, wie viele von ihnen im Ausland lebten. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass Flugzettel und mündliche Kommunikation für die Proteste eine viel größere Rolle spielten als die sogenannten sozialen Netzwerke.
Blogs hingegen – das persischsprachige »Blogistan« – waren hingegen im Iran sehr bedeutsam. Gegen Ende der Präsidentschaft Khatamis stellten immer mehr reformorientierte Zeitungen ihre Arbeit ein. Viele Journalisten verlegten ihre Tätigkeit daraufhin ins Internet. Persisch wurde dort innerhalb kürzester Zeit zu einer der meistbenutzten Sprachen, ein Phänomen, das sich weder durch Demographie – das Persische wird weltweit viel seltener gesprochen, aber öfter gebloggt als etwa Arabisch – noch durch die besonders repressiven Verhältnisse im Iran gänzlich erklären lässt. Facebook und Youtube waren dagegen bis zum Herbst 2009 im Iran gesperrt, werden seitdem aber sowohl von Anhängern wie Gegnern des Regimes genutzt.
Zugleich ist die virtuelle Kommunikation durch eine deutliche digital divide gekennzeichnet. Die Preise für Internetnutzung sind im Iran und in den arabischen Ländern wesentlich höher als in den USA oder Europa, das Durchschnittseinkommen ist dort aber um ein Vielfaches geringer. Die geschätzten 70 000 aktiven Blogger bilden dort eine kleine digitale Elite, die weniger als ein Promille der Bevölkerung ausmacht. Die iranischen Blogs berichten über alle möglichen Themen, von Sport über Musik bis zur internationalen Politik. In einer Gesellschaft wie der iranischen, in welcher der Staat derart tief in die Privatsphäre seiner Bürger eingreift und Vorschriften darüber erlässt, wie man sich zu kleiden hat und welche Musik gespielt werden darf, taugt jedes kulturelle Thema zum Politikum. Trotzdem bilden iranische Blogger keine per se oppositionelle Gruppe, wie gelegentlich kolportiert wird. Gerade in den vergangenen Jahren hat das Regime selbst gezielt mit einer eigenen »Kolonisierung Blogistans« begonnen, wie Sreberny und Khiabany es nennen. Basij-Mitglieder werden massenhaft vom Regime zum Bloggen ermuntert, und seit August 2009 besitzt auch der religiöse Führer Khamenei ein eigenes Facebook-Profil. Heute bieten die Blogeinträge aus dem Iran vor allem interessante Augenzeugenberichte über die Ereignisse des Sommers von 2009, die hoffentlich bald häufiger übersetzt und genauer untersucht werden, als dies bisher geschehen ist.

Negin Behkan wird bei der Vorstellung von »The Green Wave« am 27. Februar um 13 Uhr im Filmtheater Hackesche Höfe, Berlin, auf dem Podium anwesend sein und am 23. Februar in Stuttgart bei einer weiteren Veranstaltung im Delphi-Theater um 19.30 Uhr.

Annabelle Sreberny/Gholam Khiabany: Blogistan. The Internet and Politics in Iran. I.B. Tauris, London/New York 2010