Im Gespräch mit dem ungarischen Philosophen Sándor Radnóti über die Hetzkampagne ungarischer Medien gegen ihn und einige Kollegen

»Sie schaffen die Demokratie ab«

Seit Anfang Januar führen die der Regierung nahe stehenden ungarischen Medien eine Hetzkampagne gegen sechs ungarische Philosophen, die mit einem in der Budapester Tageszeitung Magyar Nemzet veröffentlichten Artikel unter der Schlagzeile »Die Hellers haben eine halbe Milliarde Forint verforscht« begann. Angegriffen wurden international bekannte Philosophen wie Ágnes Heller, Mihály Vajda, György Gábor, Kornél Steiger, György Geréby und Sándor Radnóti. Der Vorwurf lautete: Sie hätten Forschungsmittel zweckentfemdet. Der Abrechnungskommissar der Regierung, Gyula Budai, der auch Abgeordneter der rechten Regierungspartei Fidesz ist, leitete eine Untersuchung ein. Dass die Vorwürfe in Wahrheit politisch motiviert sind, wird von der Regierung und den entsprechenden Medien kaum verborgen. Radnóti wurde Mitte Februar mitgeteilt, dass die Untersuchung gegen ihn eingestellt werde. Der 1946 geborene Philosoph, Kritiker und Professor der Ästhetik an der Universität Budapest hat zwölf Bücher publiziert, darunter »The Fake. Forgery and its Place in Art« (1999).

Warum haben diejenigen, die diese Kampagne gegen Sie und Ihre Kollegen begonnen haben, nicht nur die angebliche Mittelverschwendung, sondern auch Ihre politische Überzeugung kritisiert? Damit stellen sie doch ihre eigene Kampagne in Frage.
So denkt ein Mensch im Westen. Doch bei uns hat es die Kampagne bestärkt, deren wesentliche Botschaft war: Diejenigen »liberalen« Philosophen, die sich auf die Moral berufen und die Regierung angreifen, sind in Wirklichkeit korrupt, stehlen und betrügen. Die Begründung dieser Beschuldigung war ihnen nicht so wichtig wie die Betonung des politischen Inhaltes ihres Angriffs. Es ging um die Ausschreibung von Projekten und es wurde behauptet, dass für uns eine Ausnahme gemacht worden sei und wir hohe Beträge rechtswidrig erhalten hätten, die sonst Humanwissenschaftlern nicht gewährt würden. Wir hingegen haben bewiesen, dass zu diesem Zeitpunkt 106 humanwissenschaftliche Projekte genehmigt wurden. Sie haben verschwiegen, dass es nicht um jeweils eine Person ging, sondern um ein Konsortium, und sie stellten die Sache so dar, als ob wir die hohe Summe in unsere eigene Tasche gesteckt und nicht aufgeteilt hätten unter den 20, 30, 40 oder mehr Mitgliedern eines Forschungsteams, das wir geleitet haben. Sie haben auch die Zeitspanne des Projekts verschwiegen, es ging nicht um eine kurze Zeit, sondern um drei Jahre. Auch die Ergebnisse der Projekte, die zahlreichen Bücher und Studien, die im In- und Ausland veröffentlicht wurden, waren für sie unwichtig. Sie haben eine Hetzkampagne geführt, sie haben die Dementis, die anderswo erscheinen konnten, nicht publiziert, Tatsachen, die ihre Einstellung in ein anderes Licht rückten, wurden verschwiegen, sie waren auch nicht bereit, unsere Antworten zu veröffentlichen. Doch jetzt sind bereits zwei Monate vergangen, und sie wiederholen in der Tageszeitung Magyar Nemzet, die der Regierung nahe steht, fast täglich die gleichen Beschuldigungen, damit ihre Leser bloß nichts vergessen.
Weshalb hat der Abrechnungskommissar Gyula Budai das von Ihnen geleitete Projekt nun als ordnungsgemäß anerkannt?
Diese sechs Projekte, die von sechs verschiedenen Personen geleitet wurden, haben verschiedene finanzielle Konstruktionen. Unter den Betreibern gibt es tatsächlich einige, die sich lange kennen, aber nicht alle. Doch alle sechs konnten mit der Behauptung stigmatisiert werden, sie seien »liberale« Philosophen. Insbesondere nach der Wende 1990 wurden ungarische Intellektuelle gezwungen, Kommanditgesellschaften zu gründen, damit sie Geld aufnehmen können. Zahllose solcher Gesellschaften wurden in der Vergangenheit gegründet, und obwohl diese finanzielle Kons­truktion auch für die meisten dieser Projekte gilt, behaupten die Scharfmacher, diese seien illegal. Zufällig kam mein Projekt nicht in solch einer Konstruktion zustande, so dass sie gegen mich auch nicht diese an den Haaren herbeigezogenen Beschuldigungen erheben können. Trotzdem wurde ich 40 Tage unter den verleumdeten Beschuldigten genannt.
Klagen Sie nun gegen diejenigen, die Sie verleumdet haben?
Ja, ich habe die Klage schon eingereicht. In erster Linie gegen Magyar Nemzet, aber ich denke daran, auch diejenigen regierungsnahen Medien zu verklagen, die diese Verleumdung übernommen haben.
Warum führten diese Zeitungen diese Kampagne gegen Philosophen?
Anscheinend ist die Philosophie noch immer gefährlich, und zweifellos gibt es unter den Philosophen solche wie Ágnes Heller und mich und andere, die in der Öffentlichkeit regelmäßig ihre Meinung äußern und die die gegenwärtige populistische Regierung sehr scharf kritisieren.
Ist »populistisch« nicht eine Untertreibung? Die Fidesz ist doch völkisch und Jobbik gar nationalsozialistisch eingestellt.
Ja, so kann man das auch formulieren, auf alle Fälle kann keine Rede davon sein, was man im Ausland manchmal annimmt, dass wir es hier in einem gewissen Sinne mit einer konservativen Partei zu tun haben. Voriges Jahr hat die rechte Partei Fidesz einen gewaltigen Wahlsieg errungen, sie steht fern von jeder Art Konservatismus und konservativen Werten. Das System, das sie während eines Jahres konsequent errichtet haben, kann man nur als autoritär qualifizieren.
Was halten Sie von der These des Wirtschaftsexperten János Kornai, dass das ungarische System heute ein autokratisches sei?
Damit bin ich ganz einverstanden, Kornai hat eine ausgezeichnete detaillierte Analyse geschrieben. Eine Reihe von zusammenhängenden Maßnahmen zeigt, dass sie wirklich alle Garantien des Rechtsstaats aufheben, sie schaffen Säulen der modernen Demokratie wie etwa die Gewaltenteilung ab. Die Jurisdiktion des Verfassungsgerichtshofs und anderer kontrollierender Institutionen wurde beschränkt, sie verabschieden rückwirkende Gesetze, sie haben die Mitglieder von privaten Pensionsversicherungen gezwungen, aus diesen auszutreten, womit sie gezeigt haben, dass sie das Privateigentum nicht achten. Hier wird ein außerordentlich problematisches Gebilde geschaffen, dessen einzige Legitimation der außerordentliche Erfolg dieser Parteien bei den Wahlen ist, und deswegen kann der ungarische Staat heute auch als antiliberale Demokratie bezeichnet werden. Und daraus folgt, dass das Wort »liberal« zum Schimpfwort wurde – so lassen sie uns verstehen, dass die »liberalen« Philosophen gleichzeitig auch Kriminelle sind. Es ist sehr schwerwiegend, wenn man Menschen wegen ihrer politischen Anschauungen kriminalisiert. Es gab nach der Wende Beispiele von Rufmorden an Politikern. Gegen Wissenschaftler ging man aber bisher nicht in diesem Maße und mit dieser Entschiedenheit vor.
Das ist doch für die Regierenden auch ein Risiko. Interessiert es sie nicht, dass ihre Politik im Ausland Kritik oder gar Entsetzen hervorruft?
Tatsächlich ist die Reaktion aus dem Ausland unerwartet breit, von ganz überraschenden Orten von wissenschaftlichen Instituten und bedeutenden Persönlichkeiten erhielten wir Solidaritätserklärungen, die aber in Ungarn fast keine Wirkung entfalten. Auch in einer wesentlich bedeutenderen Sache, im Fall der Mediengesetzgebung, die auch heftige internationale Reaktionen auslöste, sieht man im Inland keine Wirkung.
Im Gegenteil – es gibt eine alte ungarische Tradition, das Gefühl »wir sind allein«, »alle verraten uns«, und das wird gerade durch die internationalen Proteste bestärkt. Viktor Orbán stellte sein Scheitern in Strasbourg so dar, als ob die ungarische Nation angegriffen worden wäre und nicht seine autokratische Politik. Und vorläufig wirkt das in Ungarn. Man kann sagen, dass die internationalen Proteste innerhalb Ungarns kontraproduktiv wirken, weil sie die Machthaber populärer machen. Trotzdem sage ich natürlich nicht, dass solche Proteste nicht erfolgen sollten – im Gegenteil, sie sind sehr wichtig und können zur gegebenen Zeit wirken.