Die Mikrokreditwirtschaft steht in der Kritik

Kleine Kredite, große Krise

Muhammad Yunus, der Erfinder der Mikrokreditwirtschaft, hat seinen Posten als Direktor der Grameen Bank verloren. Die Branche, die Arme zu Unternehmern machen soll, wird wegen ihrer Geschäftsmethoden kritisiert und steht vor finanziellen Probemen.

Friedensnobelpreisträger leben derzeit wenig komfortabel. Muhammad Yunus muss zwar nicht wie Liu Xiaobo in China eine elfjährige Haftstrafe absitzen. Doch der Preisträger des Jahres 2006 wurde jüngst zwangsweise in die Rente geschickt. Yunus war mit der Idee der Mikrokredite populär geworden. Vor allem in Bangladesch und Indien sollten Menschen, deren Einkommen und Besitz den Banken nicht ausreichend für eine Kreditvergabe erscheinen, in die Nationalökonomien integriert werden. Am 2. März hat die Zentralbank Bangladeschs die Ausnahmeregelung zurückgenommen, nach der Yunus auch über die Altersgrenze von 60 Jahren hinaus Direktor der eigens für die Mikrokreditvergabe gegründeten Grameen Bank hätte bleiben können. Yunus ist bereits 70 Jahre alt. Die Entscheidung wurde mittlerweile auch vom Obersten Gericht des Landes bestätigt.
Nicht nur die Tatsache, dass der einst als »Hoffnung der Armen« umjubelte Bankdirektor zehn Jahre nach dem Erreichen des Pensionsalters plötzlich seinen Posten verlor, deutet auf eine politische Entscheidung der Zentralbank in Dhaka hin. Seine Ablösung stellt den Höhepunkt einer von der Regierung in den vergangenen Monaten geführten Kampagne gegen die Mikrokreditwirtschaft dar. Erst kürzlich hatte Ministerpräsidentin Sheikh Hasina Wajed die Grameen Bank und andere Mikrofinanz-Institutionen beschuldigt, hohe Zinsen zu erheben und das »Blut der armen Schuldner auszusaugen«. Daher ist die Beschuldigung, Yunus’ Entlassung sei »politisch motiviert«, die er selbst und seine Anwältin Sara Hossain nach dem Urteil erhoben, kaum in Zweifel zu ziehen.
Offensichtlich wird dies auch von der US-Regierung so gesehen. Außenministerin Hillary Clinton, die bereits als First Lady Bangladesch besucht und sich stets als Fürsprecherin des Nobelpreisträgers betätigt hatte, forderte von der Regierung umgehend eine »Klarstellung«. Ihr Botschafter, James F. Moriarty, äußerte seine »tiefe Besorgnis« über den Bruch der Rechtsstaatlichkeit in Bang­ladesch. John Kerry, der Vorsitzende des auswärtigen Senatsausschusses und ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidat, drohte gar damit, dass Sheikh Hasina Wajed bei ihrem USA-Besuch im April damit rechnen müsse, nicht von Präsident Barack Obama persönlich empfangen zu werden.

Stehen also die Sozialreformer der Grameen Bank und ihre Unterstützer in der demokratischen US-Regierung der von Yunus schon häufig als »korrupt« bezeichneten Regierung Bangla­deschs gegenüber, welche die Bank, an der sie bisher ein Viertel der Anteile hält, vollständig übernehmen will? So stellen es Yunus und seine Anhänger, die vereinzelt kleinere Demonstrationen in Bangladesch organisierten, gerne dar. Hinsichtlich der Übernahme könnten sie langfristig Recht behalten, fuhr die Grameen Bank doch in den vergangenen Jahren gute Gewinne ein.
Genau hier aber liegt das Problem. Denn die Vergabe von Mikrokrediten ist längst zum lukrativen globalen Geschäft geworden, und dies ist entgegen manchen Behauptungen auch immer das Prinzip des Mikrokreditkonzepts gewesen. Yunus hatte in seinem Buch »Die Armut besiegen« und in unzähligen Artikeln ein »Versagen von Staat und Markt« bei der Expansion der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb dieser Länder an der Peripherie des Weltmarktes konstatiert. Mit Hilfe kleiner Kredite sollten Menschen, die bisher aufgrund des fehlenden Marktzugangs in extremer Armut leben, in die Lage versetzt werden, Unternehmen zu gründen und die Kredite dann zurückzuzahlen. Die Vergabe von Mikrokrediten ist demnach Entwicklungspolitik mit privatkapitalistischen Methoden. So sollten Millionen von Ich-AGs entstehen, allerdings nicht mit staatlicher Hilfe, sondern von Banken finanziert, um die Armut durch die Schaffung einer »Eigentümergesellschaft« (Margaret Thatcher) zu bekämpfen.
Yunus fand solvente Spender für seine Idee, vor allem in den USA, in denen Sozialpolitik tradi­tionell stärker privat durch Stiftungen oder reiche Philantropen betrieben wird als in Europa, was die heftigen Reaktionen der US-Regierung mit ausgelöst haben könnte. Der erste war der Ebay-Gründer Pierre Omidyar, der mit einer Spende in Höhe von 100 Millionen Dollar eine Anschubfinanzierung für den Aufbau eines kommerziellen Mikrokreditwesens durch die Grameen Bank bereitstellte. Die Stiftungen von Bill Gates und dem Computerhersteller Dell sprangen mit noch größeren Summen bei.
Es ist wenig überraschend, dass auch andere Finanzinstitute den gigantischen Markt für ihr immer schwerer anzulegendes Kapital entdeckten. Die Deutsche Bank und Morgan Stanley legten eigens Investmentfonds für Mikrokredite auf. Vor allem aber bildeten die indischen Großbanken Institute für das schnell expandierende Geschäft. Beim größten unter ihnen, der indischen SKS, ist die Zahl der Kreditnehmer von 80 000 im Jahr 2006 in drei Jahren auf über 7,3 Millionen gestiegen. Der größte Konkurrent Spandana konnte im gleichen Zeitraum die Anzahl der Kredite von 50 000 auf über fünf Millionen gar verhundertfachen. Derzeit ist Indien mit einem Volumen von mehr als sechs Milliarden US-Dollar der größte Mikrokreditmarkt der Welt.

Die Anbieter werden nicht müde, die Erfolge des Mikrokreditwesens hervorzuheben, so sollen nach Angaben der Grameen Bank 99 Prozent der Kredite bereits vollständig getilgt worden sein. Doch ist die Praxis der Mikrokreditvergabe seit dem Herbst international arg in die Kritik geraten. Nachdem innerhalb von 45 Tagen 30 Selbstmorde von Kreditnehmern in Indien für Schlagzeilen gesorgt hatten, verbot die Regierung des Bundesstaates Andhra Pradesh, des Landesteils mit dem höchsten Aufkommen von Mikrokrediten, kurzerhand die Vergabe dieser Darlehen. Später wurden weitere Fakten über die dubiosen Geschäftsmethoden bekannt. So sind viele der Kreditnehmerinnen zur Prostitution gezwungen, um ihre Schulden bezahlen zu können, und den Drückerkolonnen werden Prämien für die Anwerbung von Kunden gezahlt.
In letzter Zeit hatte sich Yunus immer wieder von diesen Praktiken distanziert, darauf hingewiesen, dass das eigentliche Ziel »die finanzielle Einbindung der Armen und nicht das Profitmachen« sei, und eine Regulierung der Branche gefordert. Die grundsätzliche Unterordnung unter die Profitinteressen der Finanzbranche stellt er aber nicht in Frage. In einem Interview, das er im Herbst der Zeit gab, unterschied Yunus zwischen »guten und schlechten« Kreditinstituten auch nicht danach, ob Zinsen genommen würden, sondern lediglich nach deren Höhe: »Wir (die Grameen Bank) haben deswegen folgende Regeln aufgestellt: Im grünen Bereich liegen alle, die zehn Prozent Zinsen im Jahr nehmen. Bei 15 Prozent sind sie im gelben Bereich. Wer mehr nimmt, ist ein Kredithai.«
Aber auch seine Bank ist in dubiose Finanztransaktionen verstrickt. So ist der Verbleib einer Spende der norwegischen Regierung an die Grameen Bank in Höhe von 100 Millionen Dollar weiterhin ungeklärt. Den härtesten Schlag aber versetzte der Bank eine Reportage des dänischen Fernsehjournalisten Tom Heinemann über das Pilotprojekt und Musterdorf Jobra in Bangladesch, in dem Yunus bereits in den neunziger Jahren sein Konzept verwirklicht hatte. »Meine Crew traf arme Leute«, fasst Heinemann seine Eindrücke zusammen, »die außer Schulden nichts durch Mikrokredite gewonnen hatten.«

Schlimmer noch als der Reputationsverlust dürften die Branche aber in naher Zukunft die finanzwirtschaftlichen Folgeerscheinungen der leichtfertigen Kreditvergabe treffen. Die Analogien zur Subprime-Krise im Immobiliensektor sind dabei nicht zu übersehen. Sanjay Sinha, der Leiter von MCRIL, der führenden Rating-Agentur für Mikrokredite in New Delhi, hatte bereits im Herbst darauf hingewiesen: »In Indien und weltweit trägt das Mikrofinanzwesen heute die Charakterzüge der westlichen Finanzmärkte vor ihrem Zusammenbruch.« Nach Berechnungen seiner Agentur seien den nun bankrotten Hausbesitzern in den USA Hypotheken im Wert von 120 Prozent ihres Eigentums eingeräumt worden, während in Indien viele Bauern derzeit Kredite im Wert von 150 Prozent ihrer Besitztümer bekämen. In den Städten sind diese Sub-Subprime-Kredite zumeist überhaupt nicht durch Sicherheiten gedeckt.
Zudem hat die Branche die Zahlen offensichtlich frisiert. »Die Branche belügt sich selbst«, heißt es in einem Bericht der MCRIL über die zukünftige »Rückzahlungskrise im indischen Mikrokreditwesen«. In Andhra Pradesh beispielsweise könnten zukünftig lediglich 30 bis 40 Prozent aller Mikrokreditnehmer ihre Schulden pünktlich zurückzahlen. »Wenn der Staat nicht schnell eingreift und das Mikrokreditwesen reguliert, kann die ganze Branche untergehen«, warnt Alok Misra, Chefanalyst der Rating-Agentur.
Das Microfinance Institution Network, ein Zusammenschluss von mehr als 40 kommerziellen Mikrokreditgebern, hat bereits im November nach Informationen der Financial Times einen staatlichen Notfallfonds in Höhe von 200 Millionen Dollar zur Stützung der Firmen gefordert. Muhammad Yunus’ Ablösung dürfte insofern den Anfang vom Ende des Booms der Mikrokredite darstellen, den auch die Regierung in Bangladesh in den vergangenen Jahren fleißig gefördert hatte. Nun gedenkt sie, die Branche eventuell zu regulieren.
Yunus hat aber bereits ein neues Projekt für sich entdeckt. Er wirbt nun für die Gründung »sozialer Unternehmen«, was vor allem von Lebensmittelkonzernen wie Danone gerne für PR-Kampagnen genutzt wird. Seiner Ansicht, der Kapitalismus werde die Armut besiegen, bleibt der Mann also trotz allem weiterhin treu.