Atomwirtschaft und Politik in Japan

Explosive Atomverbindung

Ein Bericht der japanischen Atomsicherheitsbehörde, der neun Tage vor dem Tsunami veröffentlicht wurde, belegt, dass es bei der Inspektion des AKW Fukushima beträchtliche Unregelmäßigkeiten gegeben hat. Demnach hat der Betreiber Tepco 33 Teile der Anlage nicht inspizieren lassen, darunter auch die Notstromgeneratoren und Teile des Kühlsystems. Ein Grund für die desolaten Kontrollmaßnahmen ist, dass die Atomwirtschaft und die Politik eng miteinander verwoben sind.

»Was zum Teufel ist hier los?« soll Japans Ministerpräsident Naoto Kan gebrüllt haben, als er einige Stunden nach der ersten Explosion im AKW in Fukushima versuchte, in der Zentrale des Kraftwerkbetreibers Tepco Informationen zu erhalten. Die japanische Regierung scheint in der Tat von dem Energiekonzern regelrecht vorgeführt worden zu sein und wirkte meist schlecht über die Zustände in den Unglücksreaktoren informiert. Dabei sind der Staatsapparat und die Energiekonzerne in Japan traditionell eng miteinander verflochten.
Die Katastrophe von Fukushima ist ein schwerer Schlag für die von allen japanischen Regierungen seit den fünfziger Jahren verfolgte Energiepolitik. Das rohstoffarme und viel Energie verbrauchende Japan hat in den vergangenen Jahrzehnten stark auf die Atomenergie gesetzt. 54 Atomkraftwerke decken etwa 30 Prozent des Energiebedarfs, zwei weitere sind im Bau und zwölf in Planung. Die elf Energieunternehmen des Landes, viele von ihnen AKW-Betreiber, hatten vor dem Beben und den dramatischen Ereignissen um die Atommeiler einen Börsenwert von zusammen 99 Milliarden Euro. Auf das Unternehmen, das die Hauptstadt mit Strom versorgt, die Tokyo Electric Power Company (Tepco), entfiel fast ein Drittel davon, doch seine Aktien haben seitdem 65 Prozent ihres Wertes verloren.
Erst vorigen Monat hatte das Unternehmen für den 40 Jahre alten Block 1 in Fukushima eine Laufzeitverlängerung um weitere zehn Jahre genehmigt bekommen. Die japanische Atomindus­trie ist ein mächtiger Komplex halbstaatlicher und privatwirtschaftlich organisierter Unternehmen, die aufs engste mit der ministeriellen Bürokratie verwoben sind. Zusammengeschlossen sind die japanischen Energiekonzerne in der Federation of Electric Power Companies (Fepco), wobei die Tepco das größte beteiligte Unternehmen ist. Es gibt enge institutionelle Verbindungen zwischen dem Staat und den Energiekonzernen, der Wechsel pensionierter Ministerialbeamter in die Führungs­etagen der Konzerne ist ein alltäglicher Vorgang.

Genau diese beinahe symbiotische Verwobenheit der Unternehmen mit dem Staatsapparat sorgte bereits seit langem für die weitgehende Aushebelung jeglicher Kontrollmechanismen und ließ ein politisch-ökonomisches Machtzentrum entstehen, das gegen Reformversuchen und öffentlicher Kritik weitgehend resistent ist.
Gerade bei Tepco, einem der fünf größten Stromkonzerne der Welt, lassen sich die Auswirkungen solcher Strukturen studieren. Symptomatisch ist allein schon die Tatsache, dass noch Tage nach dem Erdbeben und dem Tsunami und der dadurch ausgelösten Krise in Fukushima die einzigen öffentlich verfügbaren Messergebnisse rund um die Schrottreaktoren von Tepco kamen. Dass Ministerpräsident Naoto Kan sich schließlich genötigt sah, öffentlichkeitswirksam auf den Tisch zu hauen, dürfte vor allem dem Bemühen des Ministerpräsidenten geschuldet sein, sich sichtbar von einer offensichtlich unfähigen und intransparenten Unternehmensführung abzugrenzen.
Das 1951 als halbstaatlicher Zusammenschluss regionaler Energiefirmen gegründete Unternehmen stieg in den siebziger Jahren ins Atomgeschäft ein und betreibt inzwischen insgesamt 17 AKW. Der Konzern hat über 50 000 Beschäftigte und weist einen Umsatz von rund 40 Milliarden Euro aus. Immer wieder geriet das Unternehmen wegen atomarer Störfälle, Vertuschungsversuchen und Betrügereien in die Schlagzeilen. Die Behörden, deren Interesse an einer intensiven Kontrolle des Unternehmens ohnehin nicht sehr ausgeprägt ist, wurden systematisch getäuscht oder bestochen, um Zwischenfälle in einigen der Reaktoren zu verheimlichen. Im Jahr 2002 schienen die Machenschaften an die Öffentlichkeit zu kommen. Nach Presseberichten, Ermittlungen und öffentlichen Protesten gab Tepco schließlich zu, seit 1993 Berichte über Risse in den Schutzmänteln der Reaktoren in Fukushima unterdrückt zu haben. Die Regierung ließ daraufhin alle Anlagen des Konzerns vorübergehend stilllegen und überprüfen. Als sie gut ein Jahr später wieder in Betrieb gingen, gab es erneut Proteste der Bevölkerung.
2007 wurde ein weiterer Störfall öffentlich. Wegen eines Erdbebens brach im Atomkraftwerk Kashiwazaki Kariwa ein Brand aus. Zunächst beteuerte Tepco, alles sei in Ordnung. Doch dann musste das Unternehmen einräumen, dass radioaktiv verseuchtes Wasser ins Meer gelangt war. Eine interne Untersuchung brachte schließlich weitere gefälschte Prüfberichte ans Licht. Auch wenn der damalige Präsident von Tepco abtreten musste – an der engen Verbindung von Konzernspitzen, politischer Führungsriege und Bürokratie, die die ökonomische Struktur Japans prägt, änderte sich nichts. Auch nicht, als 2009 die jahrzehntelang regierende Liberaldemokratische Partei (LDP) die Macht an die als progressiver geltende Demokratische Partei (DPJ) abgeben musste.

Während in Fukushima die Katastrophe noch im Gange ist, wird unter Wirtschaftswissenschaftlern und Analysten der internationalen Großbanken bereits kontrovers darüber diskutiert, welche ökonomischen Konsequenzen sie haben könnte. Die durch das Erdbeben und den Tsunami angerichteten Schäden werden derzeit auf 137 bis 142 Milliarden Euro veranschlagt. Das überschuldete, überalterte und seit etwa 15 Jahren an weltwirtschaftlicher Bedeutung verlierende Japan könnte infolge dieser Last eine Beschleunigung seines ökonomischen Abstiegs erleben.
Zwar wird in der Debatte regelmäßig das Beispiel des Erdbebens von Kobe 1995 bemüht, durch welches die Konjunktur zeitweilig sogar angeregt wurde, weil die Wiederaufbaumaßnahmen eine Vielzahl öffentlicher Aufträge nach sich zogen. Doch diesmal sind die Schäden erheblich größer und die Möglichkeiten des Staates, sich weiter zu verschulden, begrenzt. Bereits Ende 2010 lag die japanische Staatsverschuldung bei 200 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Am 17. März einigten sich die Finanzminister und Notenbankchefs der sieben größten Industrieländer bei einer Telefonkonferenz bereits auf Notfallmaßnahmen, die im Wesentlichen auf den abgestimmten Verkauf beträchtlicher Yen-Reserven durch die Notenbanken hinauslaufen.
Ob die zu erwartende Krise der japanischen Wirtschaft neue Probleme für das ökonomische Weltsystem aufwerfen wird, ist unklar. »Erst die Krise in Arabien, dann der Ölpreis, jetzt Japan: Jede dieser Krisen einzeln wäre zu bewältigen, aber in dieser Konzentration könnte eine explosive Mischung entstehen, die den Aufschwung der Weltwirtschaft gefährdet«, meint Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts. Andere äußern sich optimistischer. »Es wird zu keinem Unsicherheitsschock kommen, der den Aufschwung der Weltwirtschaft gefährdet. Dafür sind Japans Immobilien- und Finanzmärkte zu wenig mit dem Rest der Welt vernetzt«, sagt zum Beispiel Rudolf Besch von der Dekabank. Eines ist heute schon klar: Die Ereignisse in Japan werden globale Auswirkungen auf den gesamten Energiesektor haben. Und dies wird enorme wirtschaftliche und politische Folgen haben, nicht nur in Japan. Denn die Verquickung vom Staat und Atomwirtschaft mag in Japan besonders offensichtlich sein – es gibt sie jedoch in allen Staaten der Welt, in denen es Atomkraft gibt.