Die Reaktorkatastrophe in Japan

Rauch über dem Reaktor

Noch immer wissen die Manager des Energiekonzerns Tepco und die japanische Regierung nicht, was in den beschädigten Atomkraftwerken von Fukushima geschieht. Eine Katastrophe aber ist bereits eingetreten.

Liquidatoren nannte man in der Sowjetunion die Menschen, die in der Nähe des Reaktors von Tschernobyl arbeiten mussten. In Japan werden die Arbeiter, Soldaten und Feuerwehrleute, die eine Kernschmelze in den Reaktoren von Fukushima verhindern und für einen ausreichenden Wasserstand in den Abklingbecken sorgen sollen, nun als »nukleare Samurai« bezeichnet. Doch an der Freiwilligkeit ihres Einsatzes sind Zweifel aufgekommen, seit am Dienstag bekannt wurde, dass Wirtschaftsminister Banri Kaieda den Feuerwehrleuten von Tokyo eine »Bestrafung« angedroht hat, falls sie sich weigern sollten, in der Nähe der Reaktoren zu arbeiten.
Es scheint sich bei den im Reaktorkomplex verbliebenen Angestellten des Energiekonzerns Tepco auch nicht um qualifizierte Fachleute zu handeln, wie man bei einer Katastrophe dieses Ausmaßes annehmen könnte. Shingo Kanno etwa ist Tabakfarmer, als Bauarbeiter im Atomkraftwerk wollte er sich etwas hinzuverdienen. Gegen den Willen seiner Angehörigen habe er beschlossen, sich an den Rettungsarbeiten zu beteiligen, erzählte sein in einer Notunterkunft am Rand des Katastropgengebietes lebender Großonkel Masao Kanno der britischen Tageszeitung Guardian. »Aber Leute wie Shingo sind Amateure, sie können nicht wirklich helfen.«
Eigentlich hätte man die Verantwortlichen im Politbüro der KPdSU als Liquidatoren bezeichnen müssen, Kaieda und andere Regierungsmitglieder sowie die Manager von Tepco spielen nun eine ähnliche Rolle. Wie viele der in Tschernobyl Eingesetzten an den Folgen der Strahlenbelastung starben, ist umstritten und nicht mehr genau feststellbar, da schon die Angaben über ihre Zahl um einige Hunderttausend auseinanderliegen.
Welchem Risiko die »nuklearen Samurai« ausgesetzt werden, ist unklar, wie so vieles bei der Atomkatastrophe in Japan. Das ist nicht allein eine Folge der beschwichtigenden Informationspolitik. Auch am Dienstag, elf Tage nach dem Tsunami, der die Katastrophe auslöste, wussten die Atommanager von Tepco und die japanische Regierung nicht, was in den Reaktoren und den Abklingbecken vorgeht.
Derzeit wird gerätselt, warum Dampf oder Rauch über den Reaktorblöcken 2 und 3 aufstieg. Klarheit gibt es erst, wenn die Messinstrumente in den Kontrollräumen wieder funktionsfähig sind. Nach Angaben von Tepco wurde die Elektrizitätsversorgung in allen sechs Reaktorgebäuden wieder hergestellt, doch muss zunächst überprüft werden, wie stark die Anlagen beschädigt sind, da der Stromfluss weitere Unfälle auslösen könnte.

Wenn es gelingt, die Messinstrumente und das Kühlsystem wieder in Gang zu bringen, könnte eine vollständige Kernschmelze in den Reaktoren 1, 2 und 3 verhindert werden. Auch die Kühlung der Abklingbecken in allen sechs Reaktorgebäuden wäre dann sichergestellt. Die Nachwärme in den Reaktoren sinkt langsam, und mit ihr die Gefahr eines Bruchs des Containments. Auch bei den Brennstäben in den Abklingbecken sinkt mit der Zeit die Brandgefahr. Wahrscheinlich einige Monate, vielleicht auch ein oder zwei Jahre muss das notdürftig reparierte System dann halbwegs störungsfrei arbeiten, bevor die Gefahr endgültig vorbei ist. Möglicherweise soll der Komplex aber auch, wie offenbar bei Tepco diskutiert wird, nach dem Vorbild von Tschernobyl mit einem »Sarkophag« aus Beton umhüllt werden.
Eine Atomkatastrophe aber ist bereits eingetreten. Die Lage sei viel ernster, als die japanische Regierung zugeben wolle, sagte Gregory Jaczko, der Vorsitzende der Nuclear Regulatory Commission (NRC) der USA am Mittwoch voriger Woche vor dem Kongress. Die Strahlung in der Umgebung der Reaktoren sei höher als offiziell angegeben, »wir würden eine Evakuierung aus einem weit größeren Umkreis empfehlen« als den etwa zwölf Meilen (20 Kilometer), die von der japanischen Regierung für ausreichend gehalten werden. In der Nähe lebende Amerikaner sollten sich »etwa 50 Meilen« vom Ort der Katastrophe entfernen.
In den folgenden Tagen nutzte die US-Regierung Spezialausrüstung, die ansonsten der Überwachung des nordkoreanischen Atomprogramms dient, um die Lage in den Reaktoren zu erkunden. Die Ergebnisse wurden der japanischen Regierung mitgeteilt, aber nicht veröffentlicht. ­Jaczkos öffentliche Zurechtweisung hingegen war ein vermutlich kalkulierter diplomatischer Affront. Gute Ratschläge hätte man auch diskreter geben können, stattdessen hat der im Mai 2009 von Präsident Barack Obama ernannte NRC-Vorsitzende der japanischen Regierung kaum verhüllt vorgeworfen, die Bevölkerung zu belügen und inkompetent auf die Katastrophe zu reagieren.
Dass man in einer Krisensituation einen Verbündeten auf diese Weise brüskiert, wäre unverständlich, wenn es sich um eine nationale Ange­legenheit handeln würde. Doch offensichtlich befürchtet die US-Regierung, dass die Folgen einer Kernschmelze oder eines Brands in den Abklingbecken sich nicht auf Japan beschränken werden. Die Environmental Protection Agency bestätigte, dass am vergangenen Freitag in Kaliforninen Spuren von Xenon 133 festgestellt wurden, die »übereinstimmend mit einer Freisetzung von den Fukushima-Reaktoren in Nordjapan« seien.
Die Menge ist so gering, dass sie nur mit den sehr empfindlichen Messgeräten nachgewiesen werden konnte, die zur Überwachung der Folgen von Atombombentests dienen. Doch widerlegt die Messung die Behauptung, das radioaktive Material könne sich, anders als nach der Katas­trophe in Tschernobyl, nicht über weite Gebiete verbreiten. Los Angeles ist etwa 8 800 Kilometer von Fukushima entfernt und damit etwa genau so weit entfernt wie Berlin.
In Japan wurde am Wochenende radioaktives Jod im Trinkwasser von Fukushima und acht weiteren Präfekturen festgestellt, die Regierung untersagte am Montag die Vermarktung von Spinat und anderem Blattgemüse aus vier Präfekturen, weil in Proben radioaktives Jod und Cäsium nachgewiesen worden waren. Außerhalb der Evaku­ierungszone, in Entfernungen zwischen 20 und 60 Kilometern von den Reaktoren, wurden erhöhte Strahlungswerte gemessen. Selbst beim niedrigsten aufgezeichneten Wert von sieben Mikrosievert pro Stunde wäre die in Deutschland zulässige Grenze von einem Millisievert im Kalenderjahr in weniger als einer Woche überschritten, es wurde aber auch eine Strahlenbelastung von 170 Mikrosievert pro Stunde gemessen.
Jaczko hat also offenbar Recht, doch in dem von ihm empfohlenen Evakuierungsgebiet leben knapp zwei Millionen Menschen. Im Norden grenzt es an die vom Erdbeben und dem Tsunami am stärksten betroffenen Gebiete. Am Dienstag hatten die Behörden 9 079 Todesopfer regis­triert, 12 645 Menschen werden noch vermisst. Obwohl kaum ein Land der Welt besser auf derartige Katastrophen vorbereitet ist, fehlt es in vielen der Notunterkünfte an Nahrungsmitteln, Wasser und Heizungen. Dort leben knapp 320 000 Menschen. Auch ein moderner Indus­triestaat ist mit der Evakuierung und Versorgung von mehreren Millionen Menschen überfordert.

Weil die Japaner nicht schreiend durch die Straßen rennen, wird ihnen von einer kulturalistischen Berichterstattung Gelassenheit im Umgang mit der Atomkatastrophe unterstellt. Tatsächlich können die meisten Japaner derzeit nicht mehr tun, als abzuwarten oder ihre soziale Existenz aufzugeben und in den Süden des Landes zu flüchten. Doch selbst die chinesischen Regierung will die Pläne, weitere Atomkraftwerke zu bauen, nun überdenken. Zweifellos wird auch in Japan nun über eine andere Energiepolitik debattiert werden.
Bei allen Umfragen in Japan sprechen sich mindestens 60 Prozent, meist aber 80 Prozent der Bevölkerung gegen eine nukleare Bewaffnung des Landes aus. Doch zum japanischen Atomprogramm gehört auch die Beherrschung des Brennstoffkreislaufs, also die Anreicherung von Uran und die Abtrennung von Plutonium bei der Wiederaufbereitung von Brennstäben. Dies sind die Schlüsseltechnologien für den Bau von Nuklearwaffen.
Japan ist, wie Deutschland, ein nukleares Schwellenland, das jederzeit Atomwaffen produzieren könnte. Während deutsche Politiker wie Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß offen eine nukleare Bewaffnung der Bundeswehr forderten, ging man in Japan diskreter vor. Doch im politischen Establishment der jahrzehntelang fast ununterbrochen regierenden LDP wurde immer wieder, etwa nach dem chinesischen Atombombentest im Jahr 1964, die militärische »Nuklearoption« debattiert.
Erheblicher Druck der USA, die Rückgabe der seit 1945 besetzten Insel Okinawa und die Zusicherung, Japan nötigenfalls mit amerikanischen Atomwaffen beizustehen, trugen zum Verzicht auf diese Option bei. Die japanische Regierung unterzeichnete 1976 den Atomwaffensperrvertrag, der allerdings binnen drei Monaten gekündigt werden kann, wenn »höchste Interessen« eines Unterzeichnerstaates gefährdet sind. Nach den Raketentests in Nordkorea in den neunziger Jahren wurde die »Nuklearoption« erneut diskutiert.
Für die Großmächte sind Atomwaffen in derzeit stattfindenden und zu erwartenden Kriegen nicht von Bedeutung, die USA und Russland haben ihr Arsenal daher erheblich reduziert. Auch in Japan dürfte der Einfluss nuklearer Militaristen derzeit gering sein, zumal die LDP nicht mehr regiert. Die gewaltigen Subventionen für den Aufbau einer autarken Atomwirtschaft zahlten jedoch vornehmlich Staaten, die Atombomben produzierten oder sich diese Option schaffen wollten.

Nur solche Subventionen machen die nukleare Stromerzeugung für Privatunternehmen ren­tabel. Die enge Verbindung zwischen Staat und Atomkonzernen sichert den Betreibern der Reaktoren auch Nachsicht bei jeglicher Schlamperei (siehe Seite 4). Dass Regierungen und Konzerne sich der Gefahren immer bewusst waren, belegt ein kaum beachtetes internationales Abkommen, das bereits 1960 unterzeichnet und seitdem mehrmals ergänzt wurde. Die Pariser Übereinkunft verspricht »Personen, die durch ein nukleares Ereignis Schaden erleiden, eine angemessene und gerechte Entschädigung«, doch soll »dadurch die Entwicklung der Erzeugung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke nicht behindert« werden. Wer unermüdlich versichert, dass die Reaktoren sicher sind, sollte eigentlich bereit sein, sie auf dem »freien Markt« zu versichern. Doch verpflichtet die Pariser Überinkunft, »einen Höchstbetrag für die finanzielle Sicherheit des haftenden Inhabers« festzusetzen, der nur einen Bruchteil des Schadens deckt.
Sofern überhaupt gezahlt werden muss, wenn ein Tsunami das »nukleare Ereignis« ausgelöst hat. »Die Folgen eines atomaren Unfalls, der unmittelbar auf eine außergewöhnlich Naturkatas­trophe zurückgeht, sind nicht versichert«, urteilt Dirk Harbrücker, Geschäftsführer der Deutschen Kernreaktor-Versicherungsgemeinschaft. »Von der atomaren Katastrophe in Japan ist die private Versicherungswirtschaft nicht signifikant betroffen«, stellt die Münchner Rück fest.
Dass »der Markt« zum Atomkraftgegner wird, sobald Versicherungsmanager sich ausrechnen müssen, was eine nukleare Katastrophe sie kosten würde, nehmen wirtschaftsliberale Lobbyisten nicht gerne zur Kenntnis. Falls die Tepco-Angestellten die Reaktoren wieder unter Kontrolle bekommen, dürften die Energiekonzerne dies als Beweis für die Beherrschbarkeit der Atomtechnologie werten. Doch äußern sich selbst Mitglieder der japanischen Regierung nicht optimistisch über die Reaparaturarbeiten. »Es ist nach meinem Gefühl schwierig, von Fortschritten zu sprechen«, sagte Wirtschaftsminister Kaieda am Dienstag.