Über die russische Atompolitik

Tschernobyl ist weit weg

Ist Fukushima wirklich »überall«, wie Atomkraftgegner in Deutschland meinen? Während hierzulande Atomkraftwerke abgeschaltet werden, halten die meisten Länder an ihren Nuklearplänen fest. Russland will zwar die Sicherheit der AKW überprüfen, aber auch den Bau neuer ­Reaktoren beschleunigen. Beginn einer Serie über die internationalen Debatten zum Thema Atompolitik.

In den ersten Tagen nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima war das Interesse in der russischen Öffentlichkeit an den Ereignissen im östlichen Nachbarland groß. Besondere Aufmerksamkeit schenkte die Bevölkerung an Russlands Ostküste und auf der Insel Sachalin den Nachrichten über eine mögliche Verbreitung radioaktiver Strahlung Richtung Westen. Die Nachfrage nach Jodpräparaten und Dosimetern stieg dort in den vergangenen Tagen rasant an. Um die Gemüter zu beruhigen, wiederholten »Experten« und Politiker gebetsmühlenartig, dass der Vergleich mit dem Reaktorunglück im ukrainischen Tschernobyl vor 25 Jahren völlig unangebracht sei. Meist bezogen sie sich dabei auf Konstruktionsunterschiede, die in Japan einen ähnlich dramatischen Verlauf unmöglich machten.
So zielte manche unmittelbare Reaktion auf das Desaster in Fukushima auf dessen Banalisierung. Der stellvertretende Generaldirektor des staatlichen Atomkraftwerkbetreibers Rosenergo­atom, Walerij Asmolow, hielt etwa die Evakuierung der Bevölkerung für überflüssig. Der stellvertretende Leiter der staatlichen Atombehörde Rosatom, Alexander Lokschin, bewertete die Maßnahmen zur Bekämpfung der Unfallfolgen in Fukushima zwar als angemessen, statt Argumente führte er jedoch leere Phrasen an. »Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass die Entwicklung der Atomenergie unvermeidlich ist, nicht verloren«, lautete sein lapidares Fazit. Premierminister Wladimir Putin reagierte zunächst mit ungewohnter Zurückhaltung und veranlasste eine Überprüfung der Sicherheit des russischen Atomsektors innerhalb eines Monats. Das Atomprogramm indes stellte er keinesfalls in Frage, im Gegenteil.
Dass in der russischen Gesellschaft keineswegs ein Konsens über eine von der Atomkraft abhängige Zukunft der Energieversorgung besteht, wurde erstmals wieder deutlich seit der Offensive der Atombehörde Rosatom im Jahr 2005, die ein ambitioniertes Entwicklungsprogramm ankündigte. In den vergangenen Jahren suchte man vergeblich nach kritischer Berichterstattung hinsichtlich der Sicherheit und angeblichen Notwendigkeit von Atomkraftwerken. Rosatom hatte die führenden nichtstaatlichen Medien vorsorglich per Vertrag dazu verpflichtet, sich mit kritischen Beiträgen über die Atompolitik zurückzuhalten, was für die staatlichen Medien ohnehin gilt.

Seit vergangener Woche fühlen sich nicht mehr alle an ihr Schweigegebot gebunden. Viele Talkshows und zahlreiche Artikel widmeten sich der Frage, ob Russland nicht besser auf die Nutzung von Atomenergie verzichten sollte. Plötzlich waren sogar Stimmen von Vertretern der kleinen russischen Antiatombewegung gefragt, wie die von Wladimir Sliwjak. »Für uns ist es von großer Bedeutung, dass das Reaktorunglück in Japan zumindest teilweise zu einem Tabubruch geführt und das Kritikverbot aufgehoben hat«, sagte der Vertreter von Ecodefense der Jungle World.
Natürlich gibt es unter den russischen Medien auch Ausnahmen, wie die als Sprachrohre der Atomindustrie geltenden Zeitungen Vedomosti und Moscow Times. Beide gehören dem Verlagshaus Independent Media an, das wiederum im Besitz der Bank Menatep ist, auf deren Konten Geld der Atomlobby fließt. Auch wenn kritischere Berichte über die Folgen der japanischen Atomkatastrophe einzelne Aspekte ausblenden, wie beispielsweise die Verwendung von hochgiftiges Plutonium enthaltenden Mox-Brennelementen im havarierten Reaktor 3 in Fukushima, haben die öffentlichen Debatten der vergangenen Tage in Russland eine Phase der Aufklärung im Zusammenhang mit der Atomenergie eingeleitet.
Rosatom versucht nun, den Bedenken in weiten Teilen der Öffentlichkeit mit vermeintlicher Transparenz zu begegnen. Zumindest stellte dies der Leiter der Behörde, Sergej Kirienko, in Aussicht. Geplant seien offene Begehungen von Atomkraftwerken für Vertreter der Öffentlichkeit und der Medien. Doch Kirienko ist nicht bereit, die russische Atompolitik in Frage zu stellen. Selbstbewusst ließ er verlauten, Russland müsse die Entwicklung neuer Reaktoren mit »innovativer« Technologie nun erst recht beschleunigen.
Dabei geht es um ein Milliardengeschäft, wobei Profite weniger durch die Nutzung von Atomenergie im Inland entstehen als durch großangelegte Aufträge im Ausland. Der Reingewinn von Rosatom betrug im Jahr 2010 etwa 1,5 Milliarden Euro und stieg damit im Vergleich zum Vorjahr um über 50 Prozent an. In Russland sind derzeit zehn Atomkraftwerke mit insgesamt 32 Reaktoren in Betrieb, der älteste davon seit dem Jahr 1971. Elf entsprechen dem Tschernobyl-Typ. Die Atombehörde ließ die Laufzeit der alten Meiler über die eigentlich auf 30 Jahre veranschlagte Laufzeit hinaus verlängern und es ist nicht geplant, alte Kraftwerke vom Netz zu nehmen. Der Anteil an Atomenergie beträgt 16 Prozent, er soll aber binnen der kommenden 15 Jahre auf 25 Prozent erhöht werden. Soweit die Theorie.

In der Praxis laufen die über das Land verteilte Bauvorhaben eher schleppend. In Nizhnij Nowgorod wurde noch im vergangenen Jahr eine wei­tere Sicherheitsprüfung veranlasst. Priorität erhalten die grenznahen Projekte im Westen Russlands, wie der Neubau im Leningrader Gebiet, denn der Strom ist für den Verkauf ins Ausland vorgesehen.
Anfang vergangener Woche schloss Premierminister Wladimir Putin in Minsk einen Milliardendeal mit der belorussischen Führung ab. Sechs bis sieben Milliarden Dollar soll der mit einem russischen Kredit unter der Führung von Ros­atom ermöglichte Neubau eines Atommeilers in Belarus kosten, von dem sich Russlands Nachbar in Zukunft billigen Strom und Russland selbst erhebliche Profite aus dem Stromverkauf an die Länder der Europäischen Union erhofft. In Belarus selbst, dessen Territorium durch den Super-Gau in Tschernobyl zu fast einem Viertel von radioaktiver Strahlung verseucht wurde, ist das Projekt überaus umstritten.
Zudem ergab eine Analyse der Finanzstruktur von Rosatom durch die russische Sektion von Transparency International einen sehr hohen Anteil an behördlicher Korruption. Atomkraftgegner aus den beiden Ländern gehen davon aus, dass die nun bereitgestellten Mittel keinesfalls für eine Fertigstellung des geplanten Baus ausreichen werden. Und sollte der Bedarf Europas an Atomstrom infolge der Reaktorkatastrophe in Fukushima sinken, könnte das jüngste Projekt der weißrussischen und russischen Regierung ohnehin hinfällig werden.
Rosatom hat sich weltweit Aufträge gesichert, darunter drei Großprojekte in stark erdbebengefährdeten Gebieten wie in der Türkei, Bulgarien und Armenien. Dass der Meiler sowjetischer Bauart dem schweren Beben 1988 in Armenien standgehalten hat, wird nun besonders hervorgehoben. Doch sind erste Einbußen im Auslandsgeschäft bereits jetzt abzusehen. Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat das gemeinsam mit Russland vereinbarte Bauprojekt vergangene Woche vorerst aufgeschoben. Weitere Absagen könnten folgen.
Unklar bleibt, wie sich die Atompolitik der USA entwickeln wird, denn das wird das russische Atomprogramm beeinflussen. Sergej Kirienko betonte kürzlich nach dem erfolgreichen Abschluss langwieriger Verhandlungen mit den USA über eine weitläufige atomare Zusammenarbeit, Amerika stelle den Schlüsselmarkt auf dem Gebiet dar. Russland stellt über 40 Prozent des Nuklearbrennstoffs für US-amerikanische Kraftwerke her.
Der Atomgegner Wladimir Sliwjak jedenfalls ist verhalten optimistisch und hegt wegen der weltweit erneut erstarkten Skepsis am Atommodell Zweifel an der Realisierbarkeit der ehrgeizigen Programme der russischen Atombehörde. »Die Welt hat gesehen, dass Reaktorunfälle nicht nur bei Atomkraftwerken sowjetischer Bauart passieren. Nun kann man nicht mehr damit spekulieren, dass westliche Atomkraftwerke sicher sind. Insofern geht von Fukushima eine größere Wirkung aus als seinerzeit von Tschernobyl.«