Proteste gegen die Krisenpolitik der Regierung in Portugal

Die Wut der verlorenen Generation

Lange hat es in Portugal keine Proteste gegen die Krisenpolitik der Regierung gegeben. Noch vor dem Rücktritt des Premierministers organisierten Gewerkschaften und Initiativen gegen prekäre Arbeit mehrere Protestaktionen, die hunderttausende Menschen auf die Straße brachten.

In den vergangenen Wochen ist aus der öko­nomischen Krise in Portugal eine politische geworden. Seit 2009 führte der Premierminister Jose Sócrates eine Minderheitsregierung, die auf die Unterstützung des konservativ-sozialdemokratischen PSD und der christdemokratisch-liberalen CSD-PP angewiesen ist. Am 23. März legte Sócrates das vierte Sparprogramm im Laufe eines Jahres zur Abstimmung vor und scheiterte damit im Parlament. Das Sparprogramm sah eine Kürzung der Gehälter im öffentlichen Dienst um fünf Prozent und von Leistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich vor, außerdem die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 23 Prozent und das Einfrieren der Renten. Vorige Woche musste die Regierung zudem bekanntgeben, dass das Haushaltsdefizit für das Jahr 2010 bei 8,6 Prozent lag und nicht auf 7,3 Prozent gesunken war, wie es versprochen worden war. In diesem Jahr sollten 4,6 Prozent erreicht werden. Dieses Ziel liegt nun in weiter Ferne. Die Rating-Agenturen haben die Bonitätsnote Portugals noch einmal drastisch herabgestuft, die Zinsen für zehnjährige portugiesische Staatsanleihen stiegen auf 8,2 Prozent.

Von all dem hat die 19jährige Sara wenig Ahnung. Bis vor kurzem hat sie Filmwissenschaft und bildende Künste studiert, doch ihrer Abendschule wurde das Geld gestrichen, nun ist sie arbeitslos und sucht einen Job. Wie die meisten anderen Portugiesinnen und Portugiesen in ihrem Alter wohnt sie noch bei den Eltern. »Ich interessiere mich nicht für Politik«, sagt sie. Doch auch sie meint: »Der Druck steigt, den Leuten geht es immer schlechter.« Anders als in Griechenland gab es in Portugal bisher wenig Protest gegen die Krisenpolitik der Regierung. »Die Portugiesen sind es nicht gewohnt zu protestieren. Sie beschweren sich eher im Café oder in der Familie«, meint die Aktivistin Vanessa Martins.
Doch das scheint sich derzeit zu ändern. Anfang November vergangenen Jahres hatten die beiden großen Gewerkschaften, die sozialistische UGT und die kommunistische CGTP, mit einem eintägigen Generalstreik das Land lahmgelegt. Das sei »eine absolute Premiere in der politischen Landschaft Portgals«, sagt André Freire, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lissabon.
Anfang März wurde der Protest fortgeführt: von der Gruppe »Geração à rasca«, die sich auf Facebook gründete und deren Name so viel bedeutet wie »verlorene Generation« oder »fucked-up-Generation«, wie Vanessa Martins sagt. Die 22jährige macht eine Ausbildung in einer Konditorei in Porto und hat die Proteste im Land mitorganisiert. Die Gründung der Facebook-Gruppe sei von einem Song der Band Deolinda inspiriert worden, erzählt Vanessa und zitiert eine Zeile aus »Parva que sou«, einem Song, der eine Mischung aus Fado und Pop ist: »Was ist das für eine Welt, in der man studieren muss, um ein Sklave zu sein«. Die Band sprach mit diesem Lied vielen jungen Portugiesinnen und Portugiesen aus der Seele. Der Song wurde schnell zur »Hymne einer Generation«, wie die Zeitung Diário de Noticias schrieb.
Bei den landesweiten Protesten am 12. März gingen nach Angabe der Veranstalter rund 200 000 Menschen in Lissabon auf die Straße, weitere 80 000 in Porto und rund 20 000 in anderen Städten. »Es war nicht nur ein Jugendprotest, es war vielmehr eine parteiunabhängige Bewegung gegen prekäre Arbeit«, betont Vanessa.
Am 19. März zeigten auch die Gewerkschaften, dass es sie noch gibt. Am »Tag der Empörung« zogen über 50 000 Menschen vom zentralen Platz Marques de Pombal durch Lissabon. Am Dienstag voriger Woche streikten die Mitarbeiter der Metro in der portugiesischen Hauptstadt zum vierten Mal seit Februar, um gegen die Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst zu protestieren. Am Freitag ging die Gewerkschaftsjugend auf die Straße. Für diese Woche sind weitere Streiks und Aktionen geplant.
»Die Proteste der Gewerkschaften sind stark ritualisiert, einen Tag wird gestreikt und dann setzt man sich wieder an den Verhandlungstisch«, beklagt André Almeida, ein Mitglied des Bloco Esquerda, des portugiesischen Linksblocks. »Gerade die Proteste der Geração à rasca haben einen frischen Wind in die portugiesische Protestkultur gebracht, sie geben Anlass zur Hoffnung«, meint Almeida. Der Linksblock hat sich in den vergangenen Jahren zum Sammelbecken für Linkslibertäre, Grüne, Trotzkisten und all jene entwickelt, die den demokratischen Zentralismus der orthodox ausgerichteten kommunistischen Partei ablehnen.

Vergangene Woche bestätigte eine Studie der Gewerkschaftsjugend, dass vor allem junge Portugiesinnen und Portugiesen unter 35 Jahren trotz immer besserer Ausbildung von hoher Arbeits­losigkeit und prekären Arbeitsbedingungen betroffen sind. Ein besonderes Problem in Portugal ist das System der recibos verdes, der »grünen Quittungen« (Jungle World, 40/10), mit denen immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ohne festen Vertrag entlohnt werden. Es handelt sich meist um junge Menschen, die scheinselbständig dieselbe Arbeit erledigen wie Festangestellte, jedoch kaum Rechte haben. Etwa eine Million Menschen arbeitet in Portugal nach diesem Modell. »In Portugal ist der Staat der größte Arbeitgeber mit recibos verdes«, sagt der Jorunalist Luis Branco. 140 000 Angestellte im öffentlichen Dienst arbeiten unter prekären Bedingungen.
In der Innenstadt von Lissabon sieht man noch überall die mittlerweile vergilbten Plakate, die zu den Protesten der Geração à rasca aufriefen, oder die Graffiti, die im vergangenen November zum Generalstreik aufriefen. Die Mitglieder von Geração à rasca bereiten unterdessen einen Volksentscheid gegen prekäre Arbeitsbedingungen vor.
Ende vergangener Woche verkündete Staatspräsident Anibal Cavaco Silva Neuwahlen für den 5. Juni. Sócrates hatte nach dem Scheitern seines Sparprogramms im Parlament und seinem Rücktritt versprochen, er werde weiter für seine Poli­tik werben und erneut kandidieren. Zumindest innerparteilich hat ihm sein Rücktritt nicht geschadet. Vergangene Woche wurde Sócrates mit 93 Prozent als Parteivorsitzender der Sozialisten wiedergewählt.
Dennoch dürfte es bei den Wahlen im Juni schwierig für ihn werden. In den letzten Umfragen liegen die oppositionellen konservativen Sozialdemokraten vor dem PS. Und das, obwohl die Portugiesen mehrheitlich Sócrates’ Politik unterstützen. Er sträubt sich seit Monaten gegen den internationalen Druck, Finanzhilfen der EU und des Internationalen Währungsfonds (IWF) anzunehmen. Trotz der mehrheitlichen Ablehnung einer Einmischung des IWF und der EU und der damit verbundenen Einschränkung der fiskalischen Souveränität Portugals glaubt eine Mehrheit der Portugiesen, dass Portugal bald Finanzhilfe in Anspruch nehmen wird. Der Opposititionsführer Passos Coelho (PSD) ließ bereits durchblicken, dass er nicht zögern werde, Finanzhilfen anzunehmen, wenn es nötig sei.
Portugal wird sich dieses Jahr vermutlich weiter in die Rezession sparen. Die portugiesische Zentralbank schätzt, dass die Wirtschaft Portugals 2011 um 1,4 Prozent schrumpfen wird. Auch Sara blickt in eine ungewisse Zukunft. Sie war nicht bei den Protesten. »Aber viele meiner Freunde waren da«, sagt sie ein wenig entschuldigend. Sie sucht weiter nach einem Job. »Ich versuche etwas in einem Hostel zu finden«, sagt sie. Wenn das nicht klappt, überlegt sie, aus Lissabon wegzuziehen. »Die Situation wird langsam unerträglich.«