Hat die Ausstellung »Die entfesselte Antike« in Hamburg besucht

Der Rausch, der aus der Antike kommt

Die Hamburger Kunsthalle gibt in ihrer Ausstellung »Die entfesselte Antike« Einblicke in die Arbeit des Kulturwissenschaftlers Aby Warburg.

Auch die Hamburger Kunsthalle rühmt sich mittlerweile, Kunst erfolgreich im Unterhaltungsformat für ein Massenpublikum zu präsentieren, seien es Einzelausstellungen der beiden deutschen Großkünstler Daniel und Gerhard Richter (nicht verwandt übrigens), sei es »Pop Life«. Die Veränderungen, die auf ikonografischer Ebene in der Kunst – der ehedem so genannten »bildenden Kunst« (Goethe) – nötig waren, um sie in diese gesellschaftliche Funktion einzupassen, die ihr gegenwärtig im Kulturbetrieb allenthalben zukommt, hat vor einem Jahrhundert der Kunsthistoriker Aby Warburg als einer der ersten beforscht: 1905 trug er seine Ergebnisse anlässlich einer Tagung der »Philologen- und Lehrerversammlung« vor, mit dazugehöriger Ausstellung und, als einer der ersten mit dieser Methode, zahlreichen Lichtbildern. Was damals zu sehen war, wird jetzt im Saal der Meisterzeichnung der Kunsthalle rekonstruiert: leider ohne aktualisierenden Anschluss an den Status der Kunst heute, und damit auch abseits vom profitablen Spektakel-Programm, dessen Struktur und Wirkung Warburgs Forschung eigentlich ohne weiteres kritisch erklären könnte.
Der Ort selbst gibt einen historischen Einblick in die Zeit um 1900: Aby Warburg stand damals im engen Kontakt mit Alfred Lichtwark, dem ersten Direktor der Kunsthalle. Seine Thesen zur Bedeutung der Antike für Renaissance und Gegenwart diskutierte Warburg ebenso mit seinem Freund Gustav Pauli, der 1914 Lichtwarks Nachfolger als Direktor wurde.
Die These, mit der Warburg seinerzeit die Kunstgeschichte konfrontierte, mutet relativ banal an: Die Antike lebt fort, erst in der Renaissance, dann aber auch in der Gegenwart, zumindest in der Kunst – und zwar, das war Warburgs zentrale Wendung, als Leidenschaft, als Rausch sogar, Unruhe, Abgrund, Ekstase, als Kampf, jedenfalls als Bewegung – und das heißt: weder als fixiertes Ideal noch als still- und hochgestellte Idee.
Allerdings war der historische Rückbezug auf die Antike im 19. Jahrhundert wesentlich geprägt von diesem Ideal oder dieser Idee, wenn nicht Ideologie, mit der sich die Klassik, die Aufklärung und selbst noch die Romantik vom Barock und seinen Wucherungen abhoben. Das Menschenbild der Antike war Vorbild und damit ein Modell für den Begriff vom Menschen. Johann Joachim Winckelmann hat den Leitgedanken, der dann zu einer Art Leitsatz wurde, 1755 formuliert: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterwerke ist endlich eine edle Einfalt, eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke.«
Auf Winckelmann, der seine Überlegungen etwa mit der berühmten Darstellung des »Laokoon« illustriert haben wollte, folgten Lessing, Herder, Goethe, selbst August Schlegel. Dass es sich jedoch beim »Laokoon«, der und dessen zwei Söhne gerade schmerzvoll von Schlangen getötet werden, nicht um »edle Einfalt, stille Größe« handelt, wurde mit Nietzsches Unterscheidung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen behauptet.
Hier setzte Aby Warburg als Kunsthistoriker an und wies in seinem Vortrag über »Dürer und die italienische Antike« nach, »dass schon in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die italienischen Künstler in dem wieder entdeckten Formenschatz der Antike ebenso eifrig nach Vorbildern für die pathetisch gesteigerte wie für die klassisch gemilderte Ausdrucksweise suchten«, wie er im Vortragsmanuskript vermerkt. Warburgs Beispiel: Dürers »Tod des Orpheus«, 1494, und dessen Vorbilder von Francesco Novelli und anderen, auch anderen Arbeiten – vor allem von Andrea Mantegna und Antonio Pollaiuolo. Warburg charakterisiert das, im Gegensatz zu Winckelmanns Formel von »edler Einfalt, stiller Größe«, als »Pathosformel«. Er rekonstruiert die Leidenschaft im kunsthistorisch Abseitigen, nämlich in dem, was er »bewegtes Beiwerk« nennt, z.B. die Darstellung eines im Wind flatternden Gewandes. Grundüberlegungen zu diesem Nachleben einer in bewegter Leidenschaft entfesselten Antike finden sich schon in Warburgs 1882 eingereichter Dissertation über Botticellis Gemälde »Die Geburt der Venus« und »Frühling«.
Aby Warburg wird 1866 in Hamburg geboren, studiert in Bonn, in Berlin, hält sich längere Zeit in Florenz auf, reist in die USA. Ab 1902 wohnt er, mittlerweile verheiratet, wieder in Hamburg. In dieser Zeit beginnt er systematisch Bücher zu sammeln. Aus einer reichen Bankiersfamilie stammend, lässt sich Warburg angeblich von seinem Bruder schon mit 13 Jahren zusichern, dass die Familie ihm jedes Buch zu kaufen habe, das er sich wünsche. Dafür verzichtet er auf die Bank. Warburg legt eine Bibliothek an, die schließlich 60 000 Bücher umfasst. Die Sammlung kann vor den Nazis gerettet werden und zieht 1933 nach London.
Warburg ging es nicht um das Anhäufen und Besitzen der Bücher, sondern um das Zugänglichmachen von Wissen. So gehörten ein Lesesaal, ein Fotolabor sowie Arbeits- und Gästezimmer zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, die sich zu einem Treffpunkt für Wissenschaftler und Philosophen entwickelte.
Leider gelingt es der Ausstellung nicht, die Bedeutung Warburgs für die Kulturwissenschaft aufzuzeigen. Hier wird ganz entgegen des Warburgschen Konzepts musealisiert, statt nach der Aktualiät seines Ansatzes zu fragen. Dabei liegen die Anknüpfungspunkte auf der Hand. Seinen Vortrag über »Dürer und die italienische Antike« hielt Warburg im 1943 zerstörten Konzerthaus Hamburg am Anfang der Reeperbahn, die sich schon damals als Hauptstraße des Vergnügungsviertels St. Pauli etabliert hatte. Hier gab es Zirkus, Massenunterhaltung, Prostitution und Musik. 1912, also wenige Jahre nach Warburgs Vortrag am Rande dieses Milieus, verfasste etwa Clemens Schultz mit besorgtem Blick auf die Entwicklungen der St.-Pauli-Jugend seine Broschüre über »Die Halbstarken«. Die »Gestalt gewordene Leidenschaft«, der Warburg nachspürte, gibt es Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur als »Bildmetapher« im Museum. Die Dynamik von Pathos und Milde, von Leidenschaft und »Reserviertheit« (um diesen Ausdruck ins Spiel zu bringen, den Georg Simmel 1903 zur Charakterisierung des großstädtischen Geisteslebens einführte) kennen wir aus dem Bildervorrat des Alltagslebens, nicht aus den kunsthistorischen Sammlungen, und selbst wenn, dann wiederum nicht als ausgestellte Druckgrafik, sondern aus dem Internet.
Das führt auf Warburgs Projekt zurück, ja, berührt die fundamentale, die gesamte Moderne kritisch tangierende Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Bild, und zwar nicht nur in Bezug auf die kunsthistorische Korrektur, die Warburg an Winckelmanns »Einfalt/Größe«-Formel mit seiner Pathosformel vollzog, sondern – und das verspricht die Aktualität der Ausstellung dann doch – im Kontext der Wirklichkeit sozialer Verhältnisse, um 1900 genauso wie in der Gegenwart. Was Warburg nämlich unter kunsthistorischen Gesichtspunkten aus­lotet als »bewegtes Beiwerk«, »Pathosformel«, »Nachleben der Antike« etc. ist uns durch Kino, Fotografie und weitere Bildtechniken mittlerweile so selbstverständlich geworden, dass es absurd erscheint, Druckgrafiken in einer Weise zu präsentieren, als sei das Bild an sich etwas Besonderes. Das ist es nicht, und schon Warburg beobachtete entsprechende Parallelen zum Beispiel zur Werbung.

Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel in Hamburg. Hamburger Kunsthalle.
Bis 26. Juni 2011