Ein Gespräch mit dem syrisch-kurdischen Studentenaktivisten Bêkas A. über die Proteste in Syrien

»Für Reformen ist es zu spät«

Seit Mitte März finden in Syrien regelmäßig Demonstrationen gegen das Regime statt, mindestens 200 Menschen sollen dabei von Sicherheitskräften getötet worden sein, mehrere hundert wurden inhaftiert. Auslöser der Proteste waren Ereignisse in der Stadt Dara’a im Süden des Landes. Dort wurden Anfang März mehrere Jugend­liche festgenommen, weil sie regimekritische Parolen an Hauswände gesprüht hatten. Am 19. März gingen die Bewohner Dara’as auf die Straße und verlangten die Freilassung ihrer Kinder – stattdessen töteten Sicherheitskräfte sechs Demons­tranten. Die Proteste haben sich seither auf ganz Syrien ausgeweitet, in der Nacht zum Dienstag demonstrierten 10 000 Menschen in Homs. Bêkas A.* ist Soziologiestudent aus al-Qamischli und Mitglied der neu gegründeten »Koalition kurdischer Jugendgruppen« (Itilaf), die sich an den Protesten beteiligt. Das Interview wurde per Handy geführt. Bêkas hat sich zu diesem Zweck ein türkisches Mobiltelefon ausgeliehen, das von den syrischen Sicherheitsdiensten nicht abgehört werden kann.

Während die syrische Opposition noch Anfang Februar erfolglos zu Demonstrationen aufgerufen hat, haben die Ereignisse in Dara’a zu landesweiten Protesten geführt. Wer sind die Demonstranten, wie werden die Proteste organisiert und welche Forderungen vertretet ihr?

Wir sind überwiegend junge Leute, viele Studenten, aber auch einige politische Aktivisten. Wir fordern politische Freiheiten und demokratische Strukturen – allein ökonomische und soziale Zugeständnisse sind nicht genug. Wir wollen, dass die politischen Gefangenen freigelassen werden, und natürlich solidarisieren wir uns mit unseren Brüdern und Schwestern in Dara’a. Wir mobilisieren über Facebook und andere Inernetseiten, außerdem gibt es regelmäßige Treffen. Bisher waren diese Treffen regional beschränkt, aber inzwischen organisieren wir uns landesweit. So ist heute einer unserer Vertreter nach Damaskus gefahren, um sich dort mit Studenten und anderen Aktivisten zu treffen.

Spielen ethnische und konfessionelle Konflikte bei den Demonstrationen eine Rolle?

Absolut nicht. Die Demonstrationen haben in einem Gebiet begonnen, das nicht gerade als regimekritisch bekannt ist. Hier haben junge Leute nach dem Vorbild von Tunesien und Ägypten demonstriert, der Staat hat ihnen mit Gewalt geantwortet. Wir Kurden solidarisieren uns durch unsere Demonstrationen mit den arabischen Menschen in Dara’a und Baniyas. An unserer letzten Demonstration in Qamischli, an der etwa 5 000 Menschen teilgenommen haben, waren auch Araber und Christen beteiligt. Zum ersten Mal in den letzten 70 Jahren demonstrieren Kurden und Araber, Christen und Aleviten gemeinsam für Freiheit. Das Regime hat bisher versucht, uns ethnisch und religiös zu spalten. Wir rufen bei unseren Demonstrationen, in Dara’a ebenso wie in Damaskus und Qamischli, »Syrien ist eine Einheit«. Bei den Demonstrationen in den kurdischen Gebieten wird nicht die kurdische, sondern die syrische Fahne getragen. Das sagt einiges aus. Wir Kurden sind der Auffassung, dass in einer echten Demokratie auch unsere spezifischen Rechte als Kurden Berücksichtigung finden werden, dafür werden wir uns einsetzen.
Die kurdischen Parteien haben eure letzte ­Demonstration nicht explizit unterstützt – wie kommt das?

Es stimmt, die kurdischen Parteien haben uns zuletzt nicht unterstützt. Die Woche zuvor sah es jedoch anders aus, da haben sie zu unserer Demonstration aufgerufen. Die kurdischen Parteien machen eben Politik – wir sind freier in unseren Entscheidungen. Am Ende werden sie wieder auf unsere Linie einschwenken.

Glauben viele Syrer den Verschwörungstheorien, dass hinter dem
Aufstand die CIA und der Mossad stehen?

Diesen Theorien glaubt hier niemand. Ein Beweis ist, dass bisher alle Demonstrationen friedlich geblieben sind, solange der Sicherheitsdienst nicht eingegriffen hat. Der Staat ist es, der provoziert und tötet, nicht die Demonstranten, die für Freiheit auf die Straße gehen.

Könnten Reformen die Proteste noch beruhigen, oder muss Assad definitiv gehen?

Für Reformen ist es zu spät. Nachdem gestern erneut mehr als zehn Menschen bei Demonstrationen getötet wurden, waren heute Hunderttausende in ganz Syrien auf den Straßen und haben den Sturz des Regimes verlangt. Niemand glaubt den Vertretern des Regimes mehr, wenn sie Reformen ankündigen. Das geringe Vertrauen, das Assad und die Ba’athpartei beim Volk noch hatten, ist endgültig verspielt. Die Vorstellung, dass zumindest der Präsident große Beliebtheit genießt, entspricht nicht der Realität. Assad muss gehen! Dass in den kurdischen Gebieten der Sturz des Regimes bislang noch nicht öffentlich gefordert worden ist, hängt allein damit ­zusammen, dass wir befürchten, dass das Regime gerade bei uns mit einem furchtbaren Massaker antworten würde.

Was erhoffen sich die Demonstranten vom Westen, von Europa und den USA?

Wir sind enttäuscht, dass wir so wenig Unterstützung bekommen. Jede Woche warnen die USA und Europa Syrien erneut, dass das Töten aufhören müsse. Aber das Töten hört nicht auf. Und was passiert? Nichts. Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Einer Warnung müssen irgendwann klare Schritte folgen. Die Gelder der Familie Assad und hochrangiger Ba’athmitglieder im Ausland könnten eingefroren werden, es könnten Reiseverbote ausgesprochen werden und Ähnliches. Es gibt viele internationale Sanktionsmechanismen, aber im syrischen Fall werden sie nicht angewandt. Warum?

* Name von der Redaktion geändert