Antirassistische Initiativen gegen die europäische Flüchtlingspolitik

Wir machen den Weg frei

Angesichts der paranoiden Reaktionen der EU-Staaten auf die Migranten aus Nord­afrika fragt sich die antirassistische Szene: Was tun? Was können antirassistische Initiativen der verbreiteten Ideologie entgegensetzen, die Migranten seien eine Bedrohung, der allein mit Abschottung beizukommen sei?

Seit Jahren versuchen antirassistische Gruppen, Flüchtlingen, ihrem massenhaften Sterben an den EU-Außengrenzen und ihrer oft verzweifelten Lage innerhalb der Europäischen Union Aufmerksamkeit zu verschaffen – mit mäßigem Erfolg. Nun, mit einem Schlag, stehen die Flüchtlingsboote und die Situation der Migranten im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Medien und Politiker sprechen von »nicht enden wollenden Flüchtlingsströmen« , als ginge es um eine bedrohliche Umweltkatastrophe. Die Debatte um die Migranten aus Nordafrika ist von rassistischen Horrorszenarien und vom Wettbewerb um die drastischsten Vorschläge zur Demontage von Flüchtlingsrechten geprägt. Rege diskutiert deshalb die antirassistische Bewegung, wie es ihr in solchen Zeiten gelingen kann, wirksam für die Rechte von Migranten einzutreten.

Den Anfang gemacht haben am Sonntag schon mal die für ihren Mut zur Konfrontation mit der Staatsmacht bekannten »Ya Bastas« aus Italien. Mit einem »Zug der Würde« wollten die »Disobbedienti« – die Ungehorsamen – Hunderte tunesische Migrantinnen und Migranten von Genua nach Marseille begleiten. Anwälte, Aktivisten und Medienvertreter sollten gemeinsam mit den Nordafrikanern die französische Grenze überqueren. Das Aufgebot schien nötig, denn lange vorher war klar: Frankreich würde die Flüchtlinge nicht ohne weiteres hereinlassen.
Dabei hatten kürzlich rund 20 000 Tunesier, die in den vergangenen Wochen nach Lampedusa gekommen waren, überraschend eine italienische Aufenthaltsgenehmigung erhalten – und somit das Recht, sich im ganzen Schengen-Gebiet frei zu bewegen. Die Aktion entsprang mitnichten einem plötzlichen Anfall von Menschenfreundlichkeit des italienischen Präsidenten Silvio Berlusconi. Der hatte nur keine Lust mehr, alleine Druck auf Tunesien auszuüben, damit die Übergangsregierung ihren Landsleuten die Reisefreiheit beschneidet. Berlusconi wollte dazu Hilfe vom Rest der EU – und hoffte, diese mit der unerwarteten Legalisierung der Ankömmlinge erzwingen zu können.
Den Disobbedienti war das einerlei. »Umgekehrt wird nicht« überschrieben sie ihren Aufruf und entwarfen ein furioses Szenario: Nachdem sie das im Schengener Abkommen garantierte Recht auf Freizügigkeit in einem Akt zivilen Ungehorsams gegen die französischen Grenzer durchgesetzt hätten, würden die Migranten aus dem »Zug der Würde« am Sonntagabend in Marseille »festlich empfangen« werden.
Doch Frankreich tat das, was zuvor auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) getan hatte: Es setzte kurzerhand das Schengener Abkommen aus. Der Präfekt von Nizza machte am Sonntag die Grenze für alle Züge aus Italien dicht. Tunesier und Ungehorsame mussten aussteigen, das Rote Kreuz errichtete am Grenzübergang Ventimiglia Behelfsunterkünfte. Die Hoffnung vieler Tunesier, in Frankreich einen Job und eine Unterkunft zu finden, wurde vorerst nicht erfüllt.

Wenige Stunden später diskutierte die Talkrunde bei Anne Will über »Flüchtlinge an unseren Grenzen – wen wollen wir reinlassen?« Einer der Gäste war Thilo Sarrazin, seit Veröffentlichung seines Buches als Experte für angeblich statistisch solide untermauerte Prognosen bekannt. »So ging es auch los mit den Arabern vor 30 Jahren«, ließ er wissen. Für jeden Afrikaner, der nach Deutschland komme, würden 20 Angehörige nachziehen. Mit ihm in der Runde saß Elias Bierdel von der Organisation Borderline Europe. Auch diese führt eine Statistik: die der Toten an den europäischen Außengrenzen. Deren Zahl wächst immer weiter. Verantwortlich dafür sind auch Menschen, die die Aufrüstung der EU-Grenzen vorantreiben und Flüchtlinge damit zwingen, immer gefährlichere Wege zu gehen. Und so nannte Bierdel Sarrazin einen »Hetzer« Die Reaktion hierauf, so berichtet es Bierdels Kollege Harald Glöde, war am Montagmorgen im E-Mail-Postfach von Borderline Europe zu betrachten. »Es war erschütternd«, sagt Glöde. Die Anhängerschaft Thilo Sarrazins hatte ihren Ressentiments gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsschützer freien Lauf gelassen.
Zwar seien wenigstens die Medien derzeit »offen wie schon seit Jahren nicht mehr« für das Thema Flüchtlinge. Doch ob es möglich ist, hierauf eine politische Offensive zu gründen, die »bis zu den Politikern durchdringt«, da ist Glöde »skeptisch«. Einstweilen versucht Borderline Europe zumindest das Geschehen in Lampedusa im Auge zu behalten. Doch schon dies gestaltet sich schwierig: In der Nacht auf Montag habe die italienische Polizei den Beobachtungsposten von Borderline Europe auf der Insel durchsucht und die Mitarbeiter der Organisation verhaftet.

Für Helmut Dietrich von der Berliner »Forschungsgesellschaft Flucht und Migration« ist klar, welche Forderung die antirassistische Bewegung jetzt in den Mittelpunkt stellen müsse: Visafreiheit für Tunesier in Europa. »Die Revolutionäre haben auch für ihre Reisefreiheit gekämpft«, sagt er. Auf Druck der EU sei die Ausreise ohne ausdrückliche Genehmigung der Regime in vielen nordafrikanischen Ländern unter Strafe gestellt worden. Noch immer säßen dort weit über 1 000 Menschen im Gefängnis, weil sie dagegen verstoßen hätten. »Es ist unsäglich, dass diese Forderung jetzt noch nicht aufgekommen ist.« Auf keinen Fall dürfe man sich auf eine Asyldebatte einlassen, die auf eine quotierte Aufnahme der Migranten hinauslaufe, die diese auf die verschiedenene Mitgliedstaaten verteile: »Rumänien etwa bietet jetzt abschiebeknastähnliche Flüchtlingslager für 200 Tunesierinnen aus Italien an.«
Fortschrittlich ist laut Helmut Dietrich daher nur die Forderung nach einem Wegfall von Kon­trollen. Spätestens wenn der revolutionäre Prozess Länder wie Algerien erreiche, drohe eine kriegerische Abschottung der EU. Dem gelte es die Forderung nach freier Zirkulation entgegenzusetzen. Dietrich erinnerte an den Fall des Eisernen Vorhangs: »Als die Mauer fiel, hieß es, zehn Millionen Menschen in Osteuropa sitzen auf gepackten Koffern.« Trotzdem sei nach und nach – lange vor dem EU-Beitritt von Ländern wie Polen – die Visapflicht abgeschafft worden. Für ein Land, das so wenige Einwohner habe wie Tunesien, müsse selbstverständlich das gleiche gelten.

Das sieht auch Marion Bayer vom Netzwerk »Welcome to Europe« (W2EU) so. »Wer das Sterben stoppen will, muss die Visafreiheit einführen«, sagt sie. Doch nun alle Aufmerksamkeit auf Tunesien und Italien zu richten, sei ein Fehler. »Natürlich ist es wichtig, dort hinzugucken und Kontakte aufzubauen.« In den kommenden Wochen werde deshalb eine W2EU-Delegation nach Tunesien reisen und dort Aktivisten und Flüchtlingslager besuchen. »Im Gegensatz zu Ländern wie Marokko sind wir mit Gruppen aus Tunesien oder gar Libyen noch nicht so gut vernetzt.« Doch die große Aufmerksamkeit für die in Lampedusa anlandenden Tunesier dürfe auch nicht zu Lasten der anderen Projekte gehen, die W2EU in den vergangenen Jahren aufgebaut habe: das »Border Monitoring Project« in der Ukra­ine, das Infomobil, das Transitmigrantinnen und -migranten in Griechenland berät oder die Kampagne gegen das Dublin II-Abkommen.
Derzeit beschäftige sich W2EU mit Ungarn. Auch dort sei die Lage von Migranten katastrophal. »Dort werden ausnahmslos alle Asylsuchenden inhaftiert«, sagt Bayer – auch solche, die aufgrund des Dublin II-Abkommens aus Deutschland oder anderen europäischen Ländern wieder dorthin abgeschoben werden. »Immer wieder finden wir in Ungarn offensichtlich Minderjährige in den Gefängnissen. Manche sind illegalerweise inhaftiert, immer mehr sind auf dem Papier älter gemacht.« Hiervon dürfe man sich wegen des »Hypes« um Lampedusa nicht ablenken lassen. Für August plant »Welcome to Europe« zwar ein No-Border-Camp, doch dies werde nicht auf Sizilien stattfinden, sondern in Bulgarien: »Die türkisch-bulgarische Grenze wird nach dem Schengen-Beitritt Bulgariens der nächste Hotspot. Da ist es sehr wichtig, vorher schon hinzugehen.«

Auch auf EU-Ebene wird die Frage von Flucht und Arbeitsmigration derzeit heftig diskutiert. »Wir fordern seit Jahren ein europäisches Asylsystem«, sagt die grüne EU-Abgeordnete Ska Keller. Doch dies scheitere, ebenso wie die Bemühungen um eine Legalisierung von Arbeitsmigration, an den Mitgliedsstaaten. »Die meisten wollen überhaupt keine Migration.« Auch die Partei »Die Linke« kritisiert die vorliegenden Entwürfe der EU-Kommission für ein Zuwanderungsprogramm. Was diese plane, sei hochgradig selektiv, sagt die EU-Abgeordneten Cornelia Ernst. »Die wollen eigene Bestimmungen für Konzernpraktikanten und ähnliches.« Dabei sei es seitens der Migranten »legitim, aus ökonomischen Gründe nach Europa zu kommen. Da darf man nicht sortieren.«
Bis sich Forderungen nach Freizügigkeit für Migranten oder auch nur Forderungen nach einer humaneren Flüchtlingspolitik gegen die in Europa verbreitete Ansicht durchsetzen lassen, die Migranten seien vor allem eine Bedrohung, der allein mit hochgerüsteten Grenzschützern zu begegnen sei, hat die antirassistische Bewegung allerdings noch viel zu tun – ob sie nun wie die »Disobbedienti« auf zivilen Ungehorsam oder aber auf die Formulierung von Anträgen im EU-Parlament setzt.