Über die Rückkehr zum »Atomkonsens«

Stresstester haben niemals Zeit

Der von der Bundesregierung verkündete beschleunigte Ausstieg aus der Atomenergie bedeutet in Wahrheit eine Rückkehr zum rot-grünen »Atomkonsens«.

Nachdem die Bilder der Explosionen in den Reaktorgebäuden in Fukushima viel zu schnell wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden sind, lässt sich allmählich ausmachen, wie sich die fortdauernde Atomkatastrophe in Japan auf die künftige Energie- und Atompolitik in Deutschland auswirken wird. Zunächst versuchten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Guido Westerwelle (FDP) mit Gesten der Demut den Eindruck zu erwecken, eine tatsächliche politische Kehrtwende stehe bevor und an die Stelle der Ende Oktober 2010 beschlossenen Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken sei die Entscheidung zu einem schnellen Atomausstieg getreten. Unter dem Profilierungsdruck angesichts bevorstehender Landtagswahlen beschloss die schwarz-gelbe Bundesregierung ein Moratorium für acht Atomkraftwerke, die im Zeitraum zwischen Mitte März und Mitte Juni vorläufig abgeschaltet werden sollten.

In dieser Zeit sollten zwei Kommissionen den Betrieb der Atomkraftwerke überprüfen. Die Reaktorsicherheitskommission (RSK) sollte sich mit den technischen Fragen beschäftigen, die die 17 weiterhin am Netz befindlichen AKW betreffen, eine neu gebildete »Ethikkommission« befasst sich mit der ebenfalls von der Regierung vorgegebenen Frage, wie der versprochene Übergang ins »Zeitalter erneuerbarer Energien« gestaltet werden soll. Die RSK hat in der vergangenen Woche ihren als »AKW-Stresstest« bezeichneten Bericht vorgelegt. Nach der zu Redaktionsschluss noch ausstehenden Vorlage des Berichts der »Ethikkommission« sollen die parlamentarischen Entscheidungen dann sehr schnell getroffen werden. Insgesamt acht Energiegesetze, darunter das Atomgesetz und das sogenannte Erneuerbare-Energien-Gesetz, sollen revidiert werden.
Der »AKW-Stresstest« der RSK wurde in einem Schnellverfahren innerhalb von gerade einmal sechs Wochen durchgeführt. Die AKW wurden hinsichtlich verschiedener Kriterien überprüft, wie etwa der Absicherung gegen Erdbeben oder Hochwasser, des Verlusts der Stromversorgung von außen oder der Kühlung sowie der Prävention bei unerwarteten Ereignissen und der Sicherheit im Falle von Flugzeugabstürzen. Diese Überprüfung erfolgte allerdings allein anhand der Angaben, welche die Betreiber der AKW auch tatsächlich vorgelegt hatten. Die RSK konnte die Anlagen nicht selbst prüfen. Mit Blick auf die möglichen Folgen eines Flugzeugabsturzes wurden die Atommeiler drei Sicherheitskategorien zugeordnet. So verfügen die AKW Biblis A und B, Brunsbüttel und Philippsburg über keinen »nachgewiesenen baulichen Schutz«. Unterweser, Isar I und Neckarwestheim I sind demnach gegen leichtere Flugzeuge geschützt, die anderen zehn AKW in Deutschland sollen den Aufprall eines mittelgroßen Verkehrsflugzeugs aushalten. Dass alle Atomkraftwerke gegen den Absturz großer Verkehrsflugzeuge vollkommen unzureichend geschützt sind, ist ohnehin spätestens seit 2004 bekannt (Jungle World 11/2004). Ein eindeutiges Plädoyer für die Abschaltung von AKW hat die RSK trotzdem nicht formuliert. Allerdings bestand ihre Aufgabe auch vor allem darin, neue Sicherheitseinschätzungen abzugeben, um eine Grundlage für politische Beschlüsse zu schaffen, die dann gegebenenfalls auch einer gerichtlichen Überprüfung standhalten könnten. Ob die Kommission dieser Aufgabe gerecht geworden ist und ob sie dies angesichts der geringen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, überhaupt konnte, werden die politischen und die folgenden juristischen Auseinandersetzungen zeigen.

Dennoch haben die Parteien längst damit begonnen, die Ergebnisse der Kommission im jeweils eigenen Sinne auszulegen. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) meinte im Bericht der RSK immerhin ein neues »Risikobild« zu erkennen. Einen Vorgeschmack auf die Politik der Grünen als führende Regierungspartei gab der neue baden-württembergische Umweltminister Franz Untersteller. Seiner Auffassung nach soll das AKW Philippsburg I wegen der vorliegenden Erkenntnisse nicht wieder ans Netz gehen. Die endgültige Entscheidung will er allerdings dem Eigentümer EnBW überlassen, einem Atomkonzern in Besitz des Landes Baden-Württemberg.
Die Arbeit der sogenannten Ethikkommission ist demgegenüber in der Öffentlichkeit bislang auf kein besonders großes Interesse gestoßen, wurden hier doch vorwiegend bekannte Argumente ausgetauscht, obwohl gerade angesichts der Katastrophe in Japan klargeworden ist, dass die Anti-Atom-Bewegung mit ihren Warnungen vor den nicht verantwortbaren Risiken dieser Energieform Recht behalten hat. Es lässt sich erahnen, dass sich die Bundesregierung von der Einberufung einer »Ethikkommission« einen ähnlich entpolitisierenden Effekt erhofft, wie ihn der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) mit der »Schlichtung« durch Heiner Geißler bei »Stuttgart 21« erzielen konnte. Bisher scheint die Arbeit dieser Kommission allerdings nicht erfolgreich zu sein. In der Öffentlichkeit ist noch nicht einmal ansatzweise klar geworden, welche Funktion ihr eigentlich zukommen soll.

Die durch das Moratorium geschaffene Auszeit nutzen die Parteien, um ihre Positionen in der Atomdebatte neu zu bestimmen. Als erste Regierungspartei hat sich die CSU festgelegt. Das AKW Isar I soll nicht wieder ans Netz gehen. Bis 2022 möchte der CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer in Bayern den Ausstieg aus der Atomenergie vollzogen haben. Damit einher gehen ambitionierte Ziele in Bezug auf erneuerbare Energien. Deren Anteil an der Stromerzeugung, derzeit 25 Prozent, soll bis 2020 mehr als verdoppelt werden. Den größten Teil der Energiegewinnung sollen Photovoltaik und Windenergie ausmachen. Bei der Frage nach der Endlagerung bleibt die CSU ihrer bisherigen Linie treu. Um den Atommüll sollen sich die Preußen kümmern. Gorleben sei der geeignete Standort, und dabei solle es auch bleiben. Die Bundeskanzlerin bezeichnete das von der CSU vorgeschlagene Ausstiegsdatum bei einer CSU-Klausur im Kloster Andechs als den »richtigen Zeitraum«. Auf einen konkreten Termin legte sie sich selbst aber nicht fest. Sie will zunächst die Ergebnisse der »Ethikkommission« abwarten. Damit deutet sich an, dass es sich beim angeblich beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie in Wahrheit um eine Rückkehr zum rot-grünen »Atomkonsens« handelt. Derweil geriert sich die FDP auch im Bereich der Atomenergie als letzte Interessenvertretung der deutschen Industrie. Die Liberalen haben sich bisher nicht auf ein Ausstiegsdatum festgelegt. Stattdessen wollen sie vor allem den Ausbau der Stromnetze durchsetzen, ausdrücklich auch zu Lasten des Naturschutzes.

In der Opposition versucht man sich an einer Politik zwischen pragmatischem Realismus und radikalen Forderungen. So will die SPD sofort die sieben ältesten AKW und das wegen seiner Pannenserie berühmte Kraftwerk Krümmel stilllegen. Die restlichen neun AKW sollen bis spätestens 2020 ihren Betrieb einstellen. Eine Übertragung der Laufzeiten von alten auf neue Anlagen, wie im rot-grünen »Atomkonsens« vorgesehen, soll nicht mehr gestattet werden. Auch die Grünen wollen die sieben ältesten AKW und Krümmel sofort stilllegen. Die übrigen Atomkraftwerke sollen einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen und auf dieser Grundlage gegebenenfalls vom Netz genommen werden. Innerhalb der nächsten Legislaturperiode, nach derzeitigem Stand also voraussichtlich in den Jahren 2013 bis 2017, sollen alle verbleibenden AKW abgeschaltet werden. Die Grünen haben also die Chance genutzt, sich vom rot-grünen »Atomkonsens« zu lösen, der rechnerisch für 2021 das Ende der Atomstromerzeugung vorsah. Die »Linke« hat sich bei der Konkurrenz um den schnellsten Atomausstieg für die radikalsten Forderungen entschieden. Elf Atomkraftwerke sollen nach ihren Vorstellungen sofort stillgelegt, die restlichen sechs schrittweise bis Ende 2014 abgeschaltet werden.
Einzig ein entschlossenes Auftreten der Anti-Atom-Bewegung könnte die Pläne der Regierung noch stören. Bereits am nächsten Wochenende wird bundesweit wieder zu Protesten und Massenblockaden aufgerufen, mit denen die erneute Inbetriebnahme von AKW verhindert werden soll.