Die zweite internationale »Hilfsflottille« für Gaza soll Ende Juni starten

Manchmal kommen sie wieder

Ende Juni ist es voraussichtlich wieder so weit: Eine neue internationale »Hilfsflot­tille« gegen die israelische Seeblockade des Gaza-Streifens soll mit 15 Schiffen und über 1 000 Menschen an Bord in See stechen. Auch die »Mavi Marmara«, das Schiff, das im Mai vergangenen Jahres von israelischen Kommandos erstürmt wurde, wird von Istanbul aus starten. Die islamistische Organisation IHH hält sich dieses Jahr bei den Vorbereitungen im Hintergrund, auf die Unterstützung der türkischen Regierung kann sie weiterhin rechnen.

Eine Gruppe junger Männer in Pumphosen und mit Turbanen auf dem Kopf biegt von der Treppe vor der Stadtverwaltung von Beyoglu auf den Istiklal Boulvard ab. Obwohl es Montagabend ist, strömen die ausgehfreudigen Istanbulerinnen und Istanbuler in das Vergnügungsviertel, um in die Restaurants, in die Musikclubs oder ins Kino zu gehen. Junge Frauen, die Kopftücher und modische, lange Kleider tragen, sind hier keine Seltenheit. Der schwarze Ganzkörperschleier und andere körperverhüllende Kleidungsstücke sind sonst eher typisch für andere, islamisch-konservativ geprägte Istanbuler Stadtteile wie Eyüp oder Fatih.
Quassima Ibn Salah, eine junge Marokkanerin, die in der Öffentlichkeitsabteilung der islamistischen Stiftung für Menschenrechte und Freiheit (IHH) arbeitet, umarmt die Kollegin einer großen türkischen Tageszeitung. Bereits seit einer Woche berichtet das Blatt über die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Erstürmung der »Mavi Marmara«, des Hauptschiffes einer Flottille mit Hilfsgütern für den Gaza-Streifen, durch die israelische Marine am 31. Mai 2010. Mit Konzerten, Ausstellungen, Basaren und vor allem Spendenaktionen wirbt die IHH für eine zweite »Hilfsflottille«, die Ende Juni starten soll.

An der Haltestelle der historischen Straßenbahn am Tünel fangen die Leute an zu fluchen. Für eine Stunde wird der Betrieb ausgesetzt, denn eine Demonstration wird den ganzen Istiklal Boulvard bis zum Taksim-Platz entlang ziehen. Das war ein besonders großes Geschenk der islamisch-konservativen Istanbuler Stadtverwaltung, die offen mit der IHH sympathisiert und der Organisation großzügig ganze Häuserfassaden für Plakate mit weinenden Kindern aus Gaza zur Verfügung stellt. Auch das Hauptschiff der Flottille, die »Mavi Marmara«, hatte die IHH im vergangenen Jahr von der Gesellschaft der Istanbuler Seebusse erworben, die der Stadtverwaltung politisch nahesteht. Die bei anderen Demonstrationen gern aggressiv auftretende Polizei von Beyoglu verhält sich heute auffällig freundlich. Bald schon erschallen in der Straßenschlucht des Istiklal Boulvards Sprechchöre: »Verflucht sei Israel«, »Freiheit für Gaza« oder »Die Palästinenser sind unsere Brüder«. Die Gäste der Straßencafés blicken verwirrt auf die Demonstranten. Der nächtliche Umzug ist ungewöhnlich, in Istanbul demonstriert man sonst am helllichten Tag. Doch die Uhrzeit hat für die Demonstranten eine symbolische Bedeutung: Sie wollen daran erinnern, dass die israelische Marine die »Freedom-Flotilla« in den Nacht zum 31. Mai enterte.
Im Mai 2010 startete ein internationaler Konvoi von sechs Schiffen, die mit rund 10 000 Tonnen Hilfsgütern beladen waren und fast 600 Teilnehmern an Bord hatten, darunter etwa 400 türkische Staatsbürger. Dazu gehörten Gaza-Aktivisten, Politiker und Prominente wie die nordirische Friedensnobelpreisträgerin Mairead Corrigan-Maguire oder der schwedische Schriftsteller Henning Mankell. Aus Deutschland nahmen von der Linkspartei der Völkerrechtler Norman Paech und die beiden Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger an der Fahrt teil. Die sechs Schiffe wurden von verschiedenen Organisationen entsandt, darunter die »Free Gaza«-Bewegung, die türkische IHH und die griechische Initiative Boat for Gaza. Ziel der Reise war, die israelische Seeblockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen und Hilfe nach Gaza zu transportieren. In der Nacht zum 31. Mai 2010 war die »Mavi Marmara« auf dem Weg nach Gaza. Das Schiff wurde von der israelischen Marine in internationalen Gewässern aufgebracht, nachdem sie zuvor angekündigt hatte, sie werde den Konvoi daran hindern, die Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen. Die israelischen Kommandos, die die »Mavi Marmara« enterten, töteten neun Aktivisten, über 40 Menschen, darunter auch israelische Soldaten, wurden verletzt. Bei den Getöteten handelte es sich um acht türkische Staatsbürger und einen türkischstämmigen US-Bürger. Zu einer Eskalation der Gewalt war es auch gekommen, weil Aktivisten auf der »Mavi Marmara« israelische Soldaten entwaffnet und unter Deck gebracht hatten (vgl. Jungle World 23/2010, S. 3 bis 5). Ein vorläufiger Bericht der UN konstatierte im September 2010, die israelischen Streitkräfte hätten »unangemessen gewalttätig« reagiert und unnötig viel Blut vergossen, denn die IHH habe keine Waffen an Bord gehabt. Ein zweiter Bericht steht aber noch aus.

Aus ihrer Verbindung zu Hamas macht die IHH keinen Hehl. Auch Quassima Ibn Salah, die PR-Mitarbeiterin der IHH, strahlt über das ganze Gesicht, wenn sie über ihre »Brüder und Schwestern« von der Hamas spricht. »Nur sie kümmern sich um die wahren Belange des palästinensischen Volkes«, sagt sie überzeugt. Ihren Hauptsitz hat die IHH im konservativen Istanbuler Stadtviertel Fatih. Dort werden Hilfsgüter auch für andere Länder zusammengestellt. Außer Haiti sind es ausschließlich Länder mit einer überwiegend islamischen Bevölkerung. Hüseyin Oruç, einer der Organisatoren der zweiten Flottille, muss gerade mehrere Handys bedienen und ist ziemlich im Stress. Ihm ist es wichtig, wieder Prominente als Mitreisende zu gewinnen, Namen möchte er allerdings noch nicht nennen. Statt sechs sollen sich diesmal 15 Schiffe mit über 1 000 Menschen an Bord am Konvoi beteiligen. »In diesem Jahr wird Israel es nicht wagen, die Katastrophe von 2010 zu wiederholen«, sagt Oruç. Die israelische Regierung hat jedoch bereits angekündigt, die Flottille nicht im Gaza-Streifen anlegen zu lassen, und forderte die türkische Regierung dazu auf, die Organisatoren von ihrem Vorhaben abzuhalten. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu erklärte daraufhin, seine Regierung könne nicht in die Aktivitäten von Organisationen der Zivilgesellschaft eingreifen. Außerdem forderte er die israelische Regierung erneut dazu auf, sich bei den Opfern der Erstürmung vom vergangenen Jahr zu entschuldigen und Entschädigungen zu zahlen. Israel lehnt diese Forderung strikt ab, weil die Regierung von Benjamin Nethanyahu die Meinung vertritt, die IHH habe die Eskalation bewusst provoziert.
Bei der Einweihungszeremonie für die »Mavi Marmara« im vergangenen Jahr hatte der Vorsitzende der IHH, Bülent Yildirim, eine Rede gehalten, bei der Mitglieder der Hamas wie Mahmad Tzoalha und Sahar Albirawi sowie Hamam Said, ein Führer der Muslimbruderschaft aus Jordanien, anwesend waren. Yildirim sagte damals, Israel verhalte sich, wie Hitler sich gegenüber den Juden verhalten habe: »Hitler baute Konzentrationslager in Deutschland, heute baut das zionistische Gebilde Konzentrationslager in Palästina.« Solche Ansichten, auch von institutioneller Seite, sind in der Türkei durchaus verbreitet und in der Öffentlichkeit akzeptiert, die türkische Regierung sieht die Hamas auch keinesfalls als Terrororganisation an. Die Organisatoren der IHH haben dennoch begriffen, dass es opportun ist, nicht allzu aktivistisch aufzutreten, wenn man international als Menschenrechtsorganisation ernst genommen werden will. In diesem Jahr hält sich die IHH deshalb eher im Hintergrund, oder wie Hüseyin Oruç es formuliert: »Wir nehmen nur daran teil.« Eine Verbindung zur deutschen Sektion der IHH bestreitet er, man stehe sich nur in den gemeinsamen Zielen nahe.
Über diese Ziele muss sich der deutsche Ableger der türkischen Organisation nun klar werden, denn die deutsche IHH beteiligte sich im vergangenen Jahr an Spendenaktionen für die »Freedom-Flotilla«, ebenso wie die Deutsch-palästinensische Gesellschaft und Pax Christi.

Nachdem das Bundesministerium des Innern (BMI) mit einer Verfügung vom Juni 2010 die deutsche IHH zunächst verboten hatte, schlug das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Ende Mai 2011 einen Vergleich vor. Die IHH soll sich dazu verpflichten, für die kommenden drei Jahre nicht in palästinensischen Gebieten aktiv zu werden. Darüber hinaus muss sie dem BMI jährlich eine Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben vorlegen. Dafür kann sie ihren anderen Aktivitäten ohne Einschränkung nachgehen. Hält sich die IHH bis 30. Juni 2014 an die Vorgaben, soll die Verbotsverfügung außer Kraft treten. Hintergrund des Verbots war der Vorwurf, die Organisation habe vermeintliche Sozialvereine der Hamas unterstützt und damit der Völkerverständigung geschadet. Als problematisch sah das Gericht die Zusammenarbeit der IHH mit ihrer Partnerorganisation im Gaza-Streifen an. Dem Vergleichsvorschlag müssen beide Seiten bis zum 21. Juni zustimmen. Andernfalls will das Gericht am 22. Juni ein Urteil fällen. Dann wird die zweite Gaza-Flottille vermutlich gerade unterwegs sein. Pax Christi wirbt auch in diesem Jahr auf der Website für die Flottille. Die Öffnung des Landwegs bei Rafah reiche nicht aus und die Zulassung von mehr Gütern auf dem Landweg durch Israel auch nicht, heißt es dort. Es gehe darum, eine Aufgabe der Blockade einzufordern. Der IHH geht es, unabhängig von der Flottille, um viel Aufmerksamkeit für die eigene ideologische Arbeit.