Drohender Bürgerkrieg im Jemen

Die Stunde der Stämme

Präsident Ali Abdullah Saleh hat den Jemen verlassen, doch die Kämpfe dauern an. Was als Protest der Demokratiebewegung begann, könnte zu einem Bürgerkrieg eskalieren.

Der Jubel kam zu früh. Als die Demonstranten in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa und anderen Orten des Landes den Abflug des schwererletzten Präsidenten Ali Abdullah Saleh feierten, der sich Anfang Juni zur medizinischen Versorgung nach Saudi-Arabien begab, schien der Durchbruch da. Seit Februar waren die Demonstrationen gegen Saleh auf zuletzt Hunderttausende von Teilnehmern angewachsen. In Sanaa wie in Taiz, der zweitgrößten Stadt des Landes, campierten Demonstranten auf ihren hier »Change Square« genannten Plätzen.
Das Camp in Taiz wurde Ende Mai von Saleh ergebenen Soldaten »geräumt«, allein bei diesem Angriff gab es Dutzende von Toten. Der Konflikt im Jemen schien bei aller stoischen Selbstdisziplin der Demonstranten, die immer wieder Angriffe und regelrechte Massaker von »Sicherheitskräften« erduldeten, zu einem Bürgerkrieg zu eskalieren, als Salehs Soldaten mit Kämpfern einer mächtigen, von der Familie al-Ahmar angeführten Stammeskonföderation aneinandergerieten.
Straßenkämpfe in Sanaa waren die Folge, auch in anderen Teilen des Landes kam es zu Gefechten zwischen Teilen des Militärs und Stammeskämpfern. Dies war nur eine weitere Konfrontations­linie in einem überaus unübersichtlichen Konflikt. Die mit zahlreichen ambitionierten Söhnen gesegneten al-Ahmars und ihre Stammesmiliz haben zwar ihre Unterstützung für die demokratischen Forderungen der Demonstranten erklärt, jahrzehntelang haben sie jedoch mit Salehs Familie kooperiert und entsprechende politische und wirtschaftliche Machtpositionen eingenommen. Ihr Kampf mit Salehs Familie ist daher auch eine Auseinandersetzung innerhalb der jemenitischen Oligarchie über die künftige Verteilung von Macht und Ressourcen, die nicht mit den Forderungen nach einem grundsätzlichen demokratischen Wandel harmoniert.
Nachdem Salehs Soldaten das Hauptquartier der al-Ahmars in Sanaa attackiert und deren Kämpfer öffentliche Gebäude besetzt hatten, erklärten Stammesführer den Präsidenten in etwas mittelalterlich anmutender Weise für »vogelfrei«. Dann traf vermutlich eine Rakete – vielleicht war es aber auch ein Bombenanschlag – den Präsidenten­palast und darinnen eine von Saleh geleitete Versammlung mit den verbliebenen, noch nicht zurückgetretenen oder übergelaufenen Angehörigen seiner Regierung.
Unklar bleibt, wer für den offensichtlich sehr präzisen Treffer verantwortlich ist. Saleh musste nach Saudi-Arabien ausgeflogen werden, wo er angeblich von einem deutsch-saudischen Ärzteteam operiert wurde. Wie schwer seine Verletzungen sind, ist nicht bekannt. Ohne Not wird er sich allerdings nicht nach Saudi-Arabien begeben haben, denn dass man ihn wieder in den Jemen zurückreisen lässt, ist unwahrscheinlich. Von saudischer und amerikanischer Seite wurde schnell bekundet, der Präsident sei zu schwer verletzt.

Man wird froh sein, Saleh in Saudi-Arabien einigermaßen unter Kontrolle zu haben, falls sich diese Überlegungen wegen seines gesundheitlichen Zustands nicht sowieso erübrigen. Der jemenitische Präsident hatte zuletzt seine Unterstützer in den Golfmonarchien und in den USA ziemlich verärgert, da er sich dem »geordneten« Machtwechsel immer wieder entzogen hatte, der vom Golfkooperationsrat, dem Zusammenschluss der arabischen Monarchien, mühsam mit den jemenitischen Oppositionsparteien ausgehandelt worden war.
Mal weigerte sich Saleh plötzlich, Sanaa zu verlassen, um das Abkommen verabredungsgemäß im Ausland zu unterschreiben, mal ließ er die Botschafter vom Golf, aus Europa und den USA vom Mob seiner Unterstützer regelrecht belagern, damit die Unterschriftszeremonie platzte. Die Forderung der jemenitischen Demonstranten war die ganze Zeit über sowieso klar und deutlich: Saleh muss gehen, und zwar sofort und ohne Bedingungen. Die mehrfach geäußerten Absichtserklärungen dieses seit 1978 amtierenden Präsidenten, dass er sich demnächst zurückziehen wolle, kennen sie schließlich schon seit vielen Jahren.
Der Freude darüber, dass Saleh, wie schwer verletzt auch immer, das Land endlich verlassen hat, folgte eine gewisse Ernüchterung. Sowohl sein Sohn Ahmad Ali Saleh, Befehlshaber der Präsidentengarde, wie auch seine Neffen, die andere Einheiten diverser »Sicherheitskräfte« kommandieren, sind nämlich im Land geblieben. Und es sieht nicht so aus, als wollten sie den Kampf um die Macht aufgeben. Die Präsidentenfamilie befehligt weiterhin die am besten ausgerüsteten und trainierten Teile des Militärs, darunter die von den USA ausgebildeten Antiterroreinheiten.
Als bekanntgegeben wurde, dass die Operation des Präsidenten gut verlaufen sei, begann ein stundenlanges Dauerfeuer in Sanaa, deklariert als Schießerei aus Freude, dem wohl mindestens sechs Menschen zum Opfer fielen. Auch vermochte Salehs Anhang Tausende von Unterstützern für eine Demonstration zu mobilisieren.

Nachdem Saleh de facto abgetreten war, wurde die Verunsicherung noch größer. Mehrfach wurde angekündigt und wieder dementiert, dass die Oppositionsparteien mit dem Vizepräsidenten Abd-Rabbu Mansour Hadi verhandelten, um eine Übergangsregierung zu bilden. Der Ankündigung von Vertretern des Youth Movement, die Demons­tranten würden, falls es nicht umgehend zu solchen Verhandlungen käme, selbst eine Art Übergangsregierung bilden, folgten keine entsprechenden Schritte. Am Montag traf Hadi erstmals Repräsentanten der Opposition, zuvor betonte er jedoch, er werde für alle Maßnahmen die Genehmigung Salehs einholen.
Abgesandte der Golfstaaten, der USA, aber auch der EU dürften derzeit hektisch Botschaften hin und her tragen. Nicht zuletzt die Jemen-Politik der Amerikaner in den vergangenen Jahren gibt allerdings wenig Anlass zu der Hoffnung, dass diese Diplomaten auch nur einen Überblick über die Lage hätten. Das Regime Salehs wurde für den »Krieg gegen den Terror« jahrelang militärisch gepäppelt, während der Jemen neben Syrien der wichtigste logistische Rückzugsraum für die »Aufständischen« im Irak war und hochrangigen irakischen Militärs nach dem Sturz Saddam Husseins neue Jobs bot. Das Regime Salehs nahm zudem etwa im Kampf gegen aufständische schiitische Houthis im Norden des Landes auch die Hilfe von salafitischen Kämpfern in Anspruch.
Und die Kämpfe gehen weiter. Truppen der Fraktion Salehs sollen Stammeskämpfer, die mittlerweile Taiz kontrollieren, angegriffen haben. Eine andere Fraktion der Armee steht unter der Kontrolle eines ehemaligen Vertrauten des Präsidenten, der nun eigene Ambitionen hegt. In der südjemenitischen Stadt Zinjibar liefern sich – vermutlich – diese Militäreinheiten heftige Kämpfe mit einer lokalen Islamistenmiliz, die im Kontakt mit al-Qaida stehen könnte. Währenddessen bekriegt das US-Militär mit Drohnenangriffen Militante von al-Qaida im Südjemen.

Angesichts der Destabilisierung ist nicht so recht klar, wer mit wem gegen wen und wofür kämpft. Da gibt es schließlich noch die »Südliche Bewegung«, die die erneute Unabhängigkeit des Südjemen fordert und bisher weitgehend unbewaffnet agiert. Die Militärs aus dem Norden, gleich welcher Fraktion, haben die notorische Neigung, diese Unabhängigkeitsbewegung als Fraktion von al-Qaida darzustellen.
Derweil warnt Unicef wieder einmal vor einer humanitären Katastrophe im Jemen, einem der ärmsten Länder der Welt. Schätzungsweise 40 Prozent der Jemeniten leben unter der Armutsgrenze, und bei der Hälfte der Kinder hat der Nahrungsmangel bereits zu Wachstumsverzögerungen geführt. Das ist Unicef zufolge die höchste Rate weltweit. Die Hilfsprogramme, vor allem auch zur Verbesserung der prekären Wasserversorgung – selbst in Sanaa sind die meisten Einwohner auf Tankwagen angewiesen –, kollabieren nun allein schon wegen akuten Treibstoffmangels. Wie lange auch Saleh und seine Verwandtschaft noch durchhalten mögen, die Perspektiven des Jemen sehen düster aus.