Über einen versuchten Erstkontakt in Berlin

Zu früh für den Erstkontakt

Nicht nur im Amazonasgebiet oder in Papua-Neuguinea gibt es uncontacted tribes. Ein exotischer Stamm lebt isoliert mitten in Berlin. Eine kurze Expedition an einem Dienstagmorgen.

Das Reservat ist von einem hohen Zaun umgeben, dahinter wächst dichtes Gestrüpp. Nach einer kurzen Suche entdecke ich einen schmalen Eingangsbereich. Dort haben die Bewohner Scherben verstreut, womöglich um unerwünschten Eindringlingen den Zugang zu erschweren. Glücklicherweise trage ich auf solchen Expeditionen immer festes Schuhwerk. Auch der etwas strenge Geruch, der in der Luft liegt, ist wenig einladend. Ich wage mich dennoch Schritt für Schritt vor, vorbei an Holzverschlägen und unter einem Baldachin hindurch.
Geschafft: Ich stehe auf einem freien Platz im Zentrum der Ansiedlung. Er wird von einem imposanten Bau aus Stein überragt, der auf eine Art verziert ist, wie man sie von Höhlenmalereien kennt. All dies zeugt von den architektonischen und künstlerischen Fertigkeiten der Bewohner. Von diesen ist allerdings bisher nichts zu sehen. Das ist erstaunlich, uncontacted tribes in anderen Erdteilen passen ihr Leben dem Rhythmus von Tag und Nacht an. Die Bewohner dieses abgeschiedenen Fleckens hier fühlen sich von der Morgensonne bislang nicht dazu veranlasst aufzustehen.
Zwei Hunde trotten über den Platz. Der Stamm beherrscht es also auch, Tiere zu domestizieren. Die Metalltonne, die am Rand des Platzes steht, offenbart gleich in zweierlei Hinsicht Faszinierendes: Da die Bewohner Metall nicht eigenhändig herstellen können, müssen sie sich die Tonne außerhalb ihres Reservats beschafft haben – sie wissen also, dass sie von unserer Zivilisation umgeben sind, und trauen sich auch sehr nah heran, um Gegenstände in Besitz zu nehmen. In der Tonne befindet sich zudem Asche. Die Unkontaktierten können also nicht nur Feuer machen, sie beherrschen es offensichtlich derart souverän, dass sie es sich erlauben können, die Flammen über Nacht erlöschen zu lassen.
Doch nun folgt die wirklich aufsehenerregende Entdeckung: Auf ein großes Stück Stoff in der Nähe des Eingangs haben die Bewohner tatsächlich nicht nur einzelne Schriftzeichen, sondern ganze Wörter, gar Sätze gemalt. Sie besitzen eine Schrift! Die Syntax ist zwar simpel, es handelt sich um einfache Subjekt-Prädikat-Konstruktionen, Artikel scheint es nicht zu geben. Doch für die Fachwelt dürfte die bloße Existenz dieser Sätze eine epochale Sensation sein: »Kriegseinsätze stoppen! Militarisierung bekämpfen! Kapitalismus abschaffen!«
Plötzlich raschelt es im Gebüsch. Ist es nun soweit? Ereignet sich der Erstkontakt? Meine Nervosität steigt schlagartig ins schier Unerträgliche. Werden die Bewohner feindselig reagieren oder friedlich bleiben? Werde ich sie im Notfall mit einem Gastgeschenk (einer Flasche Club-Mate) besänftigen können? Begehe ich nicht doch einen Fehler, der großes Elend verursachen könnte? Schleppe ich Viren ein, gegen die die Bewohner machtlos sind (Conficker, Bropia F.)? Oder riskiere ich am Ende meine Gesundheit (Impetigo contagiosa, Hundeflöhe)? Doch dann: Aufatmen! Aus dem Gebüsch kommt ein weiterer Hund. Von den Unkontaktierten ist weiterhin nichts zu sehen. Vielleicht ist es eben einfach noch zu früh für den Erstkontakt. 9.23 Uhr – da sind im Berliner Hausprojekt Köpi nur die Hunde wach.