Die Repression in Syrien und die türkische Außenpolitik

Im Vorhof ist die Hölle los

Die arabischen Revolutionen waren in der Außenpolitik der Türkei nicht vorgesehen. Allmählich versucht die türkische Regierung, ihre Politik der Lage anzupassen.

Spätestens als Recep Tayyip Erdogan Ende 2010 den »Gaddafi-Friedenspreis« entgegennahm, war es offensichtlich: Der türkische Ministerpräsident hatte die Lage der arabischen Herrscher falsch eingeschätzt. So zögerte die türkische Regierung zu Beginn der arabischen Aufstände erstaunlich lange, bevor sie sich von den Despoten distanzierte. Denn mit einem hatte die Regierungspartei AKP in ihren außenpolitischen Planspielen anscheinend nicht gerechnet: dass sich die Region innerhalb weniger Monate grundlegend verändern würde und diese Umwälzungen auch innenpolitische Auswirkungen entfalten könnten.

Einer der Hauptideologen der türkischen Außenpolitik, Ahmet Davutoglu, Professor für Politik und seit 2009 Außenminister der Türkei, propagierte in den vergangenen Jahren stets eine »strategische Tiefe«, die in einer Annäherung an Länder wie Syrien und den Iran bestand. Zudem bemühte sich die Türkei um eine Vermittlerrolle in den zahlreichen Konflikten der Region. Der Politikwissenschaftler Hüseyin Bagcı formulierte diese Ideologie so: »Anstatt abseits der Ereignisse zu verweilen, sollte die Türkei jetzt – im positiven Sinne – aggressiv werden, überall präsent sein und ihren Beitrag zu regionalen genauso wie zu globalen Entwicklungen leisten.«
Die AKP wandte sich somit zunehmend vom Westen ab und folgte einer religiösen Doktrin. Kemalistische und linke Kritiker sahen darin eine »neoosmanische Politik«. Denn Erdogan ging dazu über, die alten Gebiete des Osmanischen Reichs als »Vorhof der Türkei« zu betrachten und freundschaftliche Beziehungen auch zu islamistischen Mächten zu pflegen. Ab 2002 näherte sich die Türkei Syrien an und schloss mit dem Land auch militärstrategische Vereinbarungen ab. Erdogan versuchte, direkten Einfluss auf den Irak zu nehmen, hier insbesondere auf die erdölreichen Regionen um Kirkuk und Mossul und auf das kurdische Autonomiegebiet im Nord­irak, um die Rückzugsräume der PKK zu verkleinern. Er übernahm die Vermittlung in den Verhandlungen zwischen der Hamas und der Fatah, die zu einer Einheitsregierung führen sollen. Die Türkei ging eine enge Bindung mit Ägypten und Libyen ein und näherte sich dem Iran an, was die Isolation des Mullah-Regimes durchbrach und dessen Atompolitik indirekt unterstützte. Zugleich beschwor Erdogan eine schwerwiegende Krise mit Israel herauf, einem der ältesten Verbündeten der Türkei in der Region.
Die arabischen Revolutionen waren aber in dieser »neoosmanischen Politik« schlicht nicht vorgesehen. Der Aufstand in Syrien trifft die Türkei am empfindlichsten. Assad, der auch von der türkischen Regierung aufgerüstet wurde, ist zu einem Sicherheitsrisiko für die türkische Südgrenze geworden. Tausende von Flüchtlingen versuchen, in das Grenzgebiet der Türkei zu fliehen, darunter viele Kurden. Assad selbst geht mit brutaler Gewalt gegen Regimegegner vor.

Das zwingt die AKP nun dazu, nach einigem Zögern ihre Syrien-Politik zu ändern: »Bruder Assad« wird mittlerweile offiziell ermahnt, der diplomatische Austausch zwischen beiden Ländern ist hektisch. Außenminister Davutoglu besuchte in der vergangenen Woche die Flüchtlingslager in der Region Hatay. »Die Syrer sind ein Volk, das eine gemeinsame Zukunft und ein gemeinsames Schicksal mit uns teilt«, sagte er Reportern bei dieser Gelegenheit. Erdogan spricht von »Gräueltaten«, die in Syrien verübt würden, nachdem er sich zu Anfang nur sehr zurückhaltend zur Revolte im Nachbarland geäußert hat. Wie der Nachrichtensender al-Arabyia am Wochenende berichtete, will die türkische Regierung einen »warnenden Brief« an den syrischen Präsidenten Assad schicken, in dem dieser dazu aufgefordert wird, seinen Bruder Maher Assad des Amtes als Kommandeur der Republikanischen Garden und der Vierten Division zu entheben, die Demonstrations- und Meinungsfreiheit zu garantieren und das Verbot politischer Parteien aufzuheben – insbesondere der Muslimbrüder. Diese Berichte bestätigte die türkische Regierung zwar nicht, sie führte in der vorigen Woche aber Gespräche mit einem syrischen Sonderbotschafter, um über die angespannten Beziehungen beider Länder zu diskutieren und Syrien zu ermahnen, das militärische Vorgehen gegen Regimegegner einzustellen.
Ob die Türkei insgeheim schon nach neuen Partnern in Syrien sucht, ist Spekulation. Meldungen des amerikanischen Senders CNN deuten aber zumindest darauf hin. Seinen Recherchen zufolge gehen aus der Türkei große Waffenlieferungen an die Muslimbrüder in Syrien. Dies dürfte Erdogans Vorstellungen entsprechen: Er wünscht sich sicher keine säkularen oder kurdischen Kräfte an seiner Staatsgrenze, sondern möchte dort Brüder im Geiste sehen.
Ähnliche Erwägungen waren wohl auch der Grund, zwischen der Hamas und der Fatah zu vermitteln. Insbesondere die Islamisten gingen gestärkt aus den Verhandlungen über die Einheitsregierung der Palästinenser hervor. Doch auch hier könnte sich die Türkei verkalkuliert haben. Es gibt Anzeichen dafür, dass Jugendliche in den palästinensischen Gebieten die Gängelung durch die Moralwächter der Hamas nicht länger dulden und – inspiriert vom »arabischen Frühling« – ihren eigenen Aufstand wagen wollen.
Dass die arabischen Aufstände eine neue Außenpolitik erfordern, scheint der türkischen Regierung mittlerweile bewusst zu sein. So trafen sich die türkischen Botschafter aus dem Nahen Osten, aus nordafrikanischen Ländern, den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, Belgien und Italien sowie die ständigen Vertreter der Türkei bei der Nato und der EU in der vergangenen Woche mit Außenminister Davutoglu in Ankara, um über eine Strategie angesichts der Veränderungen zu beraten. In einer Pressemitteilung bezeichnete das türkische Außenministerium die Vorgänge im Nahen Osten und in Nord­afrika als »späten Normalisierungsprozess«. Die Türkei sei dank ihrer »erfolgreichen Demokratie« eine »Quelle der Inspiration« in der Region, hieß es in der Mitteilung weiter. Deshalb solle das Land eine zentrale Rolle in der »Transformation in der Region« spielen.

Dass sich die Türkei einerseits als Paradebeispiel für eine gelungene Demokratie ausgibt, auf der anderen Seite aber islamistische Kräfte wie die Muslimbruderschaft unterstützt, scheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Würden sich Islamisten in Ländern wie Ägypten und Syrien durchsetzen, hätte die Türkei einen einfacheren Zugang zu den regionalen Märkten, die AKP könnte auch mit Hilfe ihrer religiösen Ideologie das türkische Einflussgebiet ausdehnen.
Doch die Unterstützung von Gruppen wie der Muslimbruderschaft in Ägypten und Syrien könnte sich als fatal erweisen – auch für die türkische Innenpolitik. So bediente sich Erdogan bereits im Wahlkampf unablässig religiöser Propaganda, um etwa die Anhänger der Gülen-Bewegung zufriedenzustellen. In anderen Ländern islamistische Kräfte zu hofieren, könnte türkische Islamisten dazu einladen, eine noch stärkere Islamisierung der Türkei zu fordern, und die religiöse Radikalisierung der AKP weiter vorantreiben – und damit zu einer endgültigen Loslösung der Türkei aus der westlichen Bindung führen.