Eine neue Studie des DIW zur Einkommensentwicklung in Deutschland

Arm werden in zehn Jahren

In Deutschland sind innerhalb von wenigen Jahren die Realeinkommen von Geringverdienern drastisch gesunken.

Die Ergebnisse der Studie sind erschreckend. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt bei einer Untersuchung der Einkommensentwicklung fest, dass hierzulande die Kluft zwischen niedrigen und hohen Einkommen kontinuierlich zunimmt und die sogenannte Mittelschicht schrumpft. Den aus dem Datenbestand des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP), einer 1984 begonnen Langzeitbefragung von mehr als 10000 privaten Haushalten in Deutschland, ermittelten Zahlen zufolge nimmt der Anteil der Beschäftigten mit niedrigem Einkommen zu. Zwischen 2000 und 2009 stieg er von 18 auf 22 Prozent, darüber hinaus sind im gleichen Zeitraum die durchschnittlichen Einkommen der Geringverdiener gesunken. Verdiente ein Singlehaushalt der unteren Einkommensgruppe im Jahr 2000 im Schnitt noch 680 Euro pro Monat, waren es 2008 nur noch 645 Euro. Für die Studie wurden nur abhängig Beschäftigte nach ihrem monatlichen Nettoverdienst aus ihrer Hauptbeschäftigung befragt, Neben­tätigkeiten und staatliche Zuwendungen wurden nicht berücksichtigt. Die Einkommen wurden aufsteigend nach Höhe sortiert und anschließend in zehn gleich große Gruppen gegliedert. In der untersten Gruppe lag das Nettoeinkommen im Jahr 2000 bei 270 Euro, im Jahr 2010 preisbereinigt nur noch bei 211 Euro. In der zweitniedrigsten Gruppe sank das Einkommen innerhalb von zehn Jahren von 520 auf 435 Euro.

Um 16 bis 22 Prozent sind die Realeinkommen in den untersten Einkommenssegmenten im genannten Zeitraum gesunken. Angesichts dieser dramatischen Verluste erregte die Studie des DIW kurzzeitig die Aufmerksamkeit der Medien. Die Entwicklung im Bereich der unteren Einkommen erschien den Autoren der Studie so gravierend, dass auch beim DIW, das als »arbeitgebernah« gilt, vorsichtig kritische Töne angeschlagen wurden. »Vielleicht ist die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ein Stück zu weit vorangetrieben worden«, sagte Markus Grabka von der für die Erhebung verantwortlichen Projektgruppe bei der Präsentation der Ergebnisse. Neben der Zunahme von Leiharbeit und Minijobs machte Grabka auch die Gewerkschaften für die Einkommensverluste verantwortlich, weil sie vielerorts Gehaltseinbußen akzeptiert hätten. »Die Politik hat die Reformschraube überdreht«, sagte er im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau.
Zugleich sind, wie die Autoren der Studie feststellen, in den vergangenen Jahren – und auch während der Wirtschaftskrise – die höheren Einkommen deutlich gestiegen, die Zahl der Reichen hat zugenommen. Die Tatsache, dass die Kluft zwischen den Einkommen wächst, veranlasst das DIW dazu, vor »schrumpfenden Mittelschichten« zu warnen. In Deutschland vergrößert sich diese Kluft seit dem Jahr 2000 in Schüben, dies stellt einen übermächtigen langfristigen Trend dar. Die Autoren weisen auf mögliche – und mittlerweile auch wahrnehmbare – ideologische Folgen einer solchen Entwicklung hin: Gerade bei den mittleren Schichten, deren Status sich auf das Einkommen und nicht auf den Besitz gründe, bestehe eine große Sensibilität gegenüber Entwicklungen, die diesen Status bedrohen. Das könne mit der Tendenz einhergehen, eine andere Bevölkerungsgruppe für diesen Statusverlust verantwortlich zu machen und so zur Ausbreitung von diskriminierenden Einstellungen wie Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass beitragen.
Dieser Hinweis deckt sich mit den Ergebnissen der im Jahr 2010 von einer Projektgruppe unter Leitung des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer vorgelegten neunten Folge der Langzeitstudie »Deutsche Zustände«. Dort wird eine fortschreitende Verrohung der »Eliten« konstatiert, die mit einer zunehmenden sozialen Verachtung, der biologistischen und sozialdarwinistischen Legitimation sozialer Ungleichheit und einer allgemeinen Zunahme »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« einhergehe. In der Studie wird einerseits ein ideologischer Klassenkampf von oben beschrieben, bei dem die Bourgeoisie ein neues Selbstbewusstsein entwickle und sich von ärmeren Bevölkerungsgruppen scharf abgrenze. Andererseits spiele aber auch die Abstiegsangst der Lohnabhängigen im mittleren Einkommenssegment eine zentrale Rolle. Diesen wurde jahrzehntelang erfolgreich suggeriert, sie seien die »Mittelschicht«, doch stellen sie mittlerweile fest, dass der Absturz gerade in Krisenzeiten schnell gehen kann. Die von den Autoren der DIW-Studie erhobenen und aufbereiteten Daten sind insofern hilfreich, um die langfristigen Entwicklungen beschreiben und einordnen zu können.
Schon wegen ihrer methodischen und inhaltlichen Begrenzungen leistet die Studie des DIW ­jedoch keine erschöpfende Analyse der Klassengesellschaft. Eine umfangreiche Analyse müsste neben der Entwicklung von Löhnen auch die Eigentumsverhältnisse untersuchen und die Stellung der Menschen im Produktionsprozess und die Verfügung über Produktionsmittel zur Grundlage machen. Deutlich werden die Defizite der DIW-Studie vor allem in ihrer Bezugnahme auf die sogenannte Mittelschicht. Die Studie konzentriert sich überwiegend auf Lohnabhängige, behandelt werden Teile der Arbeiterklasse, die in der historisch kurzen Phase des »rheinischen Kapitalismus« finanziell vergleichsweise gut gestellt waren und innerhalb der vergangenen zehn Jahre stark unter Druck geraten sind. Hätte man nicht nur das monatliche Einkommen untersucht, sondern auch die Besitzverhältnisse in die Analyse einbezogen, wäre man zu dem Ergebnis gelangt, dass ein großer Teil dieser »Mittelschicht« weitgehend besitzlos ist, zumindest was das Eigentum an Immobilien und Produktionsmitteln betrifft. Andere Studien haben in den vergangenen Jahren bereits mehrfach festgestellt, dass die Geldvermögen der mittleren Einkommenssegmente zusehends schwinden, während bei den oberen Einkommenssegmenten ein Anstieg zu verzeichnen ist. Diese Tendenz hat sich während der Krise noch deutlich verstärkt. Darüber hin­aus spielt das monatliche Einkommen in den oberen und im eigentlichen Sinne bürgerlichen Klassensegmenten gar nicht die zentrale Rolle, wichtig sind hier zur Ermittlung des sozioökonomischen Status eher das Eigentum an Produktionsmitteln sowie Geldvermögen und Immobilienbesitz.

Mit ihrer Beschränkung auf die Einkommensentwicklung wird die Studie des DIW den Klassenverhältnissen in Deutschland nicht gerecht, den Autoren gelingt es aber, wenn auch nur sehr allgemein, einen Trend der Jahre 2000 bis 2009 darstellen. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Kluft zwischen den Einkommen als Konsequenz der ökonomischen Entwicklung weiter vergrößert, wie aus neuen Erhebungen des Statistischen Bundesamtes und der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht. Die Statistikbehörde meldete in der vorigen Woche, dass die Zahl der »atypischen Beschäftigungsverhältnisse« – Teilzeitarbeit bis 20 Stunden, geringfügige Beschäftigung, befristete Jobs und Leiharbeit – im Jahr 2010 um 243 000 auf 7,84 Millionen (von 30,9 Millionen abhängigen Beschäftigungsverhältnissen) angestiegen sei. Die Zahl der abhängigen Beschäftigungsverhältnisse insgesamt stieg im selben Zeitraum um 322 000, dementsprechend handelt es sich bei mehr als zwei Drittel aller neu entstandenen Jobs um atypische, prekäre Arbeitsverhältnisse. Vor allem die Zunahme der Leiharbeit dürfte dafür verantwortlich sein. Mit 776 000 Leiharbeitern im Jahresdurchschnitt gab es im vergangenen Jahr nach Angaben der BA einen neuen Beschäftigungshöchststand. Generell werde in der Zeitarbeit weniger bezahlt, stellte die BA fest. Das mittlere Bruttomonatsentgelt sei dort mit 1 419 Euro im Jahr 2010 nur gut halb so hoch gewesen wie der mittlere Verdienst aller sozialabgabenpflichtig Vollzeitbeschäftigten, der bei 2 702 Euro lag. Drei Viertel aller Vollzeitbeschäftigten in der Zeitarbeit arbeiten im Niedriglohnbereich, jeder zehnte Leiharbeiter bezieht zudem ergänzend ALG II. Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnbereich sei damit in der Zeitarbeit dreimal höher als im Durchschnitt aller Branchen, heißt es in der Statistik der Arbeitsagentur.

Die Gewerkschaften fühlen sich durch die Studie des DIW bestätigt. Die Unordnung auf dem Arbeitsmarkt, ausgelöst durch die politisch gewollte Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Hartz-Reformen, zeige deutlich ihre negativen Auswirkungen für einen großen Teil der Beschäftigten in Deutschland. »Die Unternehmen sollten ihre Beschäftigten endlich am Aufschwung teilhaben lassen und prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit und Minijobs in sozialversicherungspflichtige Vollzeitjobs umwandeln. Die Zeit ist reif für kräftige Lohnsteigerungen«, sagte DGB-Bundesvorstandmitglied Claus Matecki. Allerdings dürfte auch Matecki wissen, dass die Schwäche der Gewerkschaften, ihre in den vergangenen Jahren verstärkte Bereitschaft, für den Standort auch Lohnverluste hinzunehmen, und ihre prinzipielle Akzeptanz der Leiharbeit Teil des Problems sind.