Die Antisemitismusdebatte kommt für die Linkspartei zur denkbar ungünstigsten Zeit

Debatte zur Unzeit

Seit Mitte Mai der Aufsatz »Antisemiten als Koalitionspartner?« veröffentlicht wurde, befindet sich »Die Linke« derart in der Defensive, wie man es bei einer deutschen Oppositionspartei selten erlebt hat. Dabei steckt sie gerade mitten in zwei wichtigen Wahlkämpfen und in der entscheidenden Phase ihrer Programmdebatte.

Spätestens seit im Mai 2010 die aus der PDS stammende Politikerin Gesine Lötzsch und der baye­rische Gewerkschafter Klaus Ernst den Vorsitz der Partei »Die Linke« von ihren populären Vorgängern Oskar Lafontaine und Lothar Bisky übernahmen, geht es mit der im Juni 2007 aus der Fusion der SED-Nachfolgepartei »PDS.Linkspartei« und der westdeutschen Sammlungsbewegung »Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit« (WASG) bergab.
Das lag zunächst vor allem an der Ungeschicklichkeit der beiden Vorsitzenden: So brach aus­gerechnet die dem »reformorientierten« Lager ihrer Partei zuzurechnende Lötzsch Anfang 2011 eine Debatte über die Verfassungstreue der »Linken« vom Zaun, als sie in einem Zeitungsartikel über »Wege zum Kommunismus« sinnierte – bis dato hatte sich die Partei immer zum »demokratischen Sozialismus« bekannt. Lötzschs Kollege Ernst geriet wegen zweifelhafter Reiseabrechnungen und seiner Vorliebe für das Porschefahren sowie Vorwürfen der parteiinternen Wahlmanipulation in seinem bayerischen Landesverband in die Kritik.

Die Parteispitze war also, freundlich formuliert, längst angeschlagen und wohl nur mangels konsensfähiger Alternativen weiter im Amt, als im Frühsommer eine heftige Antisemitismusdebatte über »Die Linke« begann. Die Frankfurter Rundschau hatte einen Aufsatz von Samuel Salzborn und Sebastian Voigt mit dem Titel »Antisemiten als Koalitionspartner?« (siehe Seite 7) in einer Vorabversion publiziert. In der Untersuchung wird die These vertreten, dass »der antizionistische Antisemitismus innerhalb der ›Linken‹ inzwischen zu einer weitgehend konsensfähigen Position geworden« sei. Es wird vor einer möglichen Regierungsbeteiligung einer antisemitischen Partei gewarnt. Das Medienecho war gewaltig und drängte »Die Linke« und ihre Bundestagsfraktion weiter in die Defensive. Statt dass sie als Oppositionspartei die Regierungskoalition attackierte, wie man es eigentlich erwarten sollte, lief es umgekehrt: CDU/CSU und FDP beantragten im Bundestag eine Aktuelle Stunde zu »möglichen antisemitischen und israelfeindlichen Positionen und Verhaltensweisen« in der Linkspartei.
Auch Gregor Gysi, seit Oskar Lafontaines Rückzug 2009 alleiniger Vorsitzender der Bundestagsfraktion der »Linken«, hatte durch den Streit mit dem damaligen Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch im Januar 2010 schon viel von seinem Status als wichtigste innerparteiliche Integrations­figur eingebüßt. Dennoch versuchte das Triumvirat aus Gysi, Ernst und Lötzsch, Anfang Juni mit einem Fraktionsbeschluss beim Antisemitismusstreit wieder in die Offensive zu gehen. Doch weder wandte sich der entsprechende Text, wie sein Titel behauptete, »entschieden gegen Antisemitismus« in den eigenen Reihen. Noch stand die Fraktion, wie zunächst suggeriert, einstimmig dahinter. Tatsächlich waren 15 ihrer Mitglieder – fast 20 Prozent – gegen den Beschluss, sie nahmen nur nicht an der Abstimmung teil.
Der »große Befreiungsschlag ist einstweilen spektakulär missglückt«, resümierte hernach Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrates der Juden. Dass Klaus Ernst ihn daraufhin auf­forderte, lieber »die Niederungen der Parteipolitik schnell wieder zu verlassen«, statt »Diffamierung« zu betreiben, trug auch nicht gerade zu einer positiveren Wahrnehmung der »Linken« bei. Schlimmer noch: Offenbar konnte Gysi seine Fraktion nur deshalb zusammenhalten, weil er schon im Zuge dieses ersten Beschlusses einen zweiten angekündigt hatte. Dieser wurde drei Wochen später gefasst und stellte fest: »Kritik an israelischer Regierungspolitik ist kein Antise­mitismus.« Das aber hatte selbstverständlich niemand pauschal behauptet.

Im Kern geht es bei dem Streit um die Frage, welche Handlungen oder Äußerungen in welchen Kontexten als antisemitisch einzustufen sind. Der Aufsatz von Voigt und Salzborn beruft sich auf die EU-Arbeitsdefinition des Antisemitismus, wonach dieser sich unter anderem im »Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung« und durch die »Anwendung doppelter Standards« auf Israel äußert. Inwieweit das bei der Kritik einzelner Handlungen des Staates Israel gegeben ist, ist nicht immer prä­zise zu beantworten. Bestreitet das Vorgehen etwa gegen die Blockade des Gaza-Streifens nicht auch das »Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung«, wenn diese Blockade ein notwendiges Mittel gegen die Raketenangriffe ist, die von dort erfolgen?
Halina Wawzyniak, stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei, erläuterte im Gespräch mit der Jungle World ihre Sicht: »Ich finde die Gaza-Flottille nicht unterstützenswert. Ich finde aber auch, dass die Unterstützung der Gaza-Flottille oder Boykottaufrufe gegen Israel sowie Forderungen nach einer Ein-Staaten-Lösung – was ich alles entschieden ablehne – nicht antisemitisch sind. Sie können allerdings antisemitisch wirken.« Die Juristin hat dabei eine Klausel der EU-Anti­semitismusdefinition auf ihrer Seite. Dort heißt es in Hinblick auf die genannten Beispiele, man müsse sie »unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes« betrachten.
Wawzyniak bestreitet nicht, dass es Antisemitismus auch in der Linkspartei gibt: »Linkssein – vermeintlich Linkssein – und Antisemitismus schließen sich nicht aus. Es gibt auch in der Partei ›Die Linke‹, wenn auch nicht in höheren Positionen und auch nicht in großer Zahl, wie überall in der Gesellschaft klar erkennbar Antisemitismus.« Allerdings: »Das sind Leute, die keinen Einfluss auf die Politikentwicklung innerhalb der Partei haben.« Bei den von Salzborn und Voigt konkret kritisierten Bundestagsabgeordneten Annette Groth, Inge Höger und Christine Buchholz mag Wawzyniak, selbst Mitglied des Bundestages, keinen Antisemitismus erkennen: »Ich habe bisher niemanden der Funktions- und Mandatsträger auf Bundes- oder Landesebene als Antisemiten bezeichnet, mir sind bisher noch keine untergekommen.« Mit Blick auf das Verhalten einiger Kollegen konstatiert sie, es handele sich zwar nicht um Antisemitismus, aber es könne »so interpretiert werden und es kann so wirken. Da muss man einfach genauer überlegen, was man wie macht, und sich dreimal überlegen: Wie wirkt das?«

Der Berliner Landesvorsitzende Klaus Lederer formuliert seine Kritik gegenüber der Jungle World ­etwas schärfer: »Es gibt einzelne Handlungen, auch von Mitgliedern der Bundestagsfraktion, die antisemitische Klischees bedienen.« Mit Verweis etwa auf die von Inge Höger und Annette Groth getragenen Schals, auf denen der Nahe Osten ohne Israel abgebildet war, meint der Landespolitiker: »Diese Dinge sind nicht hinnehmbar und ihnen muss laut und deutlich widersprochen werden.« Aber auch Lederer sieht vorwiegend »Antizionismus« und nicht »Antisemitismus« am Werk.
Eigentlich hätte die »Linke« ohnehin Wichtigeres zu tun, als sich über Antisemitismus in den ­eigenen Reihen zu zerstreiten: Im September stehen Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin an – das sind neben Brandenburg die einzigen beiden Bundesländer, in denen die »Linke« oder die PDS als ihre Vorgängerin an der Regierung beteiligt waren beziehungsweise sind. Die rot-rote Koalition in der Bundeshauptstadt ist derzeit neben derjenigen Brandenburgs die einzige Landesregierung unter Beteiligung der »Linken«. Nachdem der Höhenflug der Linkspartei im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Hartz-IV-Gesetze schon lange vorbei ist, droht ihr nun auch noch in Berlin der Gang in die Opposition.
Die jüngste Debatte über Antisemitismus und Israel-Feindschaft sei nicht gerade »wahlkampfförderlich«, räumte der Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich kürzlich bei einem Pressegespräch ein. »Schön ist das nicht«, sagte der frühere Ber­liner Landesvorsitzende, dennoch müsse man die Debatte führen. Auch Klaus Lederer sieht den innerparteilichen Streit zu Wahlkampfzeiten als Problem: »Jede Art von Selbstbefassung wird uns hier im Wahlkampf nicht nützen, sondern schaden.« Man dürfe trotzdem nicht mehr schweigen, sagt er, »und zwar völlig unabhängig davon, ob einem das aktuell nützt oder schadet«.

Den letzten Umfragen zufolge ist zwar noch nichts entschieden, doch nicht nur wegen der Wahlen steht die Partei vor wichtigen Entscheidungen. Ende Oktober findet ein Parteitag statt, auf dem die »Linke« sich erstmals ein echtes Grundsatzprogramm geben will. Unter anderem soll dabei auch ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und zur Zwei-Staaten-Lösung in das Programm aufgenommen werden. In dieser Situation könnten etwaige Niederlagen der reformorientierten Landesverbände in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern dazu beitragen, dass sich die vorwiegend westdeutschen Traditionslinken, welche die Israel-Feindschaft in der Linkspartei besonders vehement vertreten, ausgerechnet vor dem entscheidenden Programm-Parteitag gestärkt sähen.
Doch in der Tat ist es wohl nur eine Minderheit in der Linkspartei, die ständig ihre Israel-Feindschaft kundtut. Wawzyniak jedenfalls gibt sich, was das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und zur Zwei-Staaten-Lösung im Parteiprogramm angeht, optimistisch: »Ich glaube, dass man dafür auf jedem Parteitag eine Mehrheit von mindestens 80 bis 90 Prozent bekommt.«
Zwar wird man nach dem Programmparteitag über die Mehrheitsverhältnisse genauer Bescheid wissen. Doch angesichts des Eindrucks, den diese mutmaßliche Minderheit mit ihren wiederholten Ausfällen gegen den jüdischen Staat in der Öffentlichkeit hervorruft, muss man über die Reaktionen der »ehrenwerten Stimmen« (Graumann) in der Linkspartei, also derjenigen Waw­zyniaks, Lederers, Liebichs, Petra Paus, Katja Kippings und Benjamin Krügers, wohl sagen: Too little, too late.
Wawzyniak hofft auch auf das neue Grundsatzprogramm: »Ins Programm schreibt man rein, wogegen man sich wendet. Da jeder das Programm akzeptieren muss, wenn er Mitglied werden will, ist das auch eine Handhabe zu sagen: So Leute, da und da habt ihr euch verpflichtet.« Doch dass die Israel-Feinde in der Partei ab Oktober freiwillig zurückstecken, ist wenig wahrscheinlich. Vermutlich bedarf es dazu erst jener Signalwirkung, die es hätte, wenn einige von ihnen aus der Partei ausgeschlossen würden.