Die extreme Rechte nach den Terroranschlägen in Norwegen

Rosen gegen die Rassisten

Die Anschläge in Oslo und Utøya waren nicht die ersten rechtsextremen Gewalttaten in der norwegischen Geschichte. Doch über Neonazis und das etablierte rechts­populistische Milieu wird in den Medien des Landes kaum diskutiert.

Wo immer man dieser Tage in Norwegen hingeht, wird man an den 22. Juli erinnert. Mit Kerzen, roten Rosen, Zeitungsauschnitten und Kondolenzbüchern gedenkt man des Bombenanschlags von Oslo und der Morde auf der Insel Utøya – eine Ausnahme macht nur die Supermarktkette Kiwi, die Lichter für ihren Besitzer angezündet hat, der wenige Tage vor den Attentaten bei einem Bootsunfall auf dem offenen Meer ertrunken war.
Dass rote Rosen bei den spontanen und offiziellen Gedenkfeiern im Land zum Symbol für die Trauer wurden, hat jedoch nicht nur damit zu tun, dass sie das Symbol der Arbeiderpartiet (AP) sind. Die Blumen wurden schon einmal als Ausdruck des Protests gegen rechtsextreme Gewalt benutzt, und zwar vor zehn Jahren, nach dem Holmlia-drapet, dem Mord in Holmlia.
Der 15jährige Benjamin Hermansen hatte am Nachmittag des 26. Januar 2001 zufällig seinen Freund Hadi Ghalegolabi vor dem Supermarkt in Holmlia, südöstlich von Oslo, getroffen. Während die beiden Jungen sich unterhielten, hielt ein Auto an, aus dem drei Männer ausstiegen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Benjamin immer geglaubt, dass ihm in Norwegen nichts passieren könne und später ein schönes Leben im Land mit dem dritthöchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt auf ihn warte. Schließlich trage er, wie er in der Schule sagte, den Nachnamen seiner Mutter und nicht den seines afrikanischen Vaters, seine Bewerbungen würden ganz sicher nicht im Papierkorb landen.
Die Männer waren jedoch gekommen, um irgendeinen für sie wie ein Ausländer aussehenden Menschen zu töten, und als sie wieder in ihr Auto stiegen, lebte Benjamin nicht mehr. Der Mord an dem Jungen führte dazu, dass das Thema Rassismus breit diskutiert wurde – die Täter, die später zu 18, 17 und drei Jahren Gefängnis verurteilt wurden, waren Mitglieder der Osloer Skinhead-Gruppe Bootboys.
Die norwegische Bevölkerung gilt als eine der homogensten der Welt, nur rund sechs Prozent der 4,8 Millionen Einwohner sind Einwanderer, die meisten kamen einer Erhebung aus dem Jahr 2000 zufolge aus Schweden (23 240), Pakistan (22 831) und Dänemark (18 863). Der Terror der Neonazis war kein neues Phänomen. Bereits in den sechziger Jahren entstanden zahlreiche rechtsextreme Kleingruppen, im Jahr 1975 gründete dann der bekennende Antisemit Erik Blücher die Naziorganisation Norsk Front, die zu ihren erfolgreichsten Zeiten rund 1 400 Mitglieder zählte.

Nachdem ein Mitglied von Norsk Front 1979 eine Bombe auf den 1. Mai-Umzug in der Hauptstadt Oslo geworfen hatte, reorganisierte man sich unter dem Namen Nasjonalt Folkeparti (Nationale Volkspartei), blieb aber militant. 1985 verübte die Partei einen Sprengstoffanschlag auf eine Osloer Moschee und sprühte Naziparolen auf die Synagoge der Hauptstadt. Nachdem die NF 1991 wegen Mitgliedermangels aufgelöst worden war – wegen Sprengstoffattentaten, Verstößen gegen den Rassismusparagraphen und anderer Delikte saß die Führungsspitze fast komplett im Gefängnis –, wurden ihre noch aktiven und in Freiheit befindlichen Anhänger aufgefordert, sich der Fedrelandspartiet (Vaterlandspartei), einer sich selbst nationalsozialistisch nennenden Gruppierung, an­zuschließen. Ältere NF-Mitglieder, die noch der Kriegsgeneration angehörten, gründeten mit Zorn 88 eine antisemitische und geschichtsrevisionistische Gruppe.
Beide Organisationen blieben marginal, die Vaterlandspartei gewann bei Wahlen nur knapp 1 500 Stimmen. Weit mehr Zulauf, vor allem unter jungen Männern, hatte Vigrid, eine Gruppe, die 1994 von Tore Tvedt gegründet worden war. ­Tvedt, mehrfach wegen rassistischer Äußerungen und Gewalttaten vorbestraft, sah sich als Prophet des nordischen Gottes Odin, der ihn auf die Erde gesandt habe, um Hitlers Werk zu vollenden.
Völlig überraschend kam der Mord an Benjamin Hermansen am 1. Februar 2001 also nicht, immerhin wurde die Trauerkundgebung für den Schüler zu einer der größten Demonstrationen, die Oslo je erlebt hat. 40 000 Menschen gingen auf die Straße, um gegen Rassismus zu protestieren, viele von ihnen trugen rote Rosen. Dass in den Tagen nach dem 22. Juli 2011 keine ähnlich große Demonstration stattfand, hat einen einfachen Grund: Die meisten Norweger sind verreist.
Anders Behring Breivik hat die Anschläge mitten in den Fjellesferien, der gemeinsamen Urlaubszeit vom 1. Juli bis zum 1. August, verübt, in der die meisten Betriebe geschlossen sind und auch die Politiker sich meist in ihren Ferienhäusern an der Küste aufhalten. Was auch ein Grund dafür war, dass nach der Bombenexplosion von Oslo allgemein angenommen wurde, Ausländer seien die Täter gewesen. Jeder, der sich mit den norwegischen Gepflogenheiten auskennt, hätte wissen müssen, dass an einem Freitagnachmittag während der Fjellesferien nur wenige potentielle Opfer in den Regierungsgebäuden arbeiten.

Gleichwohl verhalten sich einige Kommentatoren so, als sei Norwegen von außen angegriffen worden. So zeigte man sich beispielsweise stolz darauf, dass die Trauerreden des Premierministers Jens Stoltenberg ganz anders ausfielen als George W. Bushs »Kriegsrhetorik« nach dem 11. September 2001. Statt Ursachenforschung präsentieren die großen Zeitungen des Landes Bilder von roten Rosen, versehen mit den Namen der Opfer und deren Geschichten.
Wie wenig man bereit ist, die Rolle der etablierten Rechtspopulisten des Landes zu kritisieren, zeigte sich schon vier Tage nach den Anschlägen. In seinem Artikel »An die, die den Mörder aufgezogen haben« für die spanische Zeitung El Mundo hatte der ehemalige TV-Moderator und Autor Petter Nome der rechtspopulistischen Fremskritts­patiet heftige Vorwürfe gemacht. Deren Vorsitzende Siv Jensen trage Verantwortung für »ein Klima, in dem Hass und Gewalt für ihre ungeduldigsten, aktionistischsten Unterstützer zu einer Alternative wurden (…) Versuchte sie, billige politische Punkte zu machen, indem sie über Islamisierung und nationale und christliche Werte sprach? Ja, das tat sie, und zwar nahezu jeden Tag.« Bereits einen Tag später revidierte Petter Nome wegen der heftigen Reaktionen in Norwegen seine Äußerungen, und das auf die peinlichstmögliche Weise. Er habe nicht damit gerechnet, dass der Artikel außerhalb Spaniens gelesen werde, sagte er, selbstverständlich habe er Siv Jensen nicht persönlich angreifen wollen.
Breivik verpflichtete währenddessen Geir Lippe­stad, den Anwalt, der bereits die Mörder von Benjamin Hermansen verteidigt hatte. Was der mutmaßliche Massenmörder ihm sagte, ähnelt den zynischen Rechtfertigungsversuchen ehemaliger Wehrmachtssoldaten: Es sei ihm nicht leichtgefallen, die Jugendlichen auf Utøya zu erschießen, aber es sei »notwendig gewesen«. Es sei ihm darum gegangen, »einen Krieg zu beginnen«, und deswegen, so sein Anwalt, interessiere es ihn auch sehr, dass Medien aus aller Welt über seine Tat berichteten.
Mit der Berichterstattung norwegischer Zeitungen dürfte Breivik unzufrieden sein, denn dort beschäftigt man sich hauptsächlich damit, alle Lügen zu entlarven, mit denen er sich in seinem Manifest zu einer außerordentlich interessanten, hochintelligenten und sehr erfolgreichen Person stilisierte. Diesen Recherchen zufolge stimmt nichts von dem, was er über sich erzählte, angefangen von seiner Zeit als angeblich hochgeachteter Sprayer (die Szene musste der als Mitläufer Charakterisierte verlassen, weil er nach seiner Festnahme detailliert über seine Freunde aussagte) über die Luxuswohnung, die er besessen haben will, bis hin zu den teuren Reisen, die er angeblich unternahm, um sich kurz vor seinen Taten in Tschechien bei Edelprostituierten zu entspannen.
»Hva nå, Norge?« (Was nun, Norwegen?), fragte die Tageszeitung Dagbladet in ihrem samstags erscheinenden Magasinet 25 berühmte Norweger. Keine der Antworten dürfte dem mutmaßlichen Attentäter gefallen haben. Selbst Hans Rustad, Betreiber des islamfeindlichen Internetforums document.no, dem Breivik vor einiger Zeit das Angebot gemacht hatte, die Website zu einer Webzeitung für Muslimhasser auszubauen, sprach von einer »ungeheuerlichen Tat«. Bewusst habe man alle Beiträge und Kommentare Breiviks zusammengefasst und veröffentlicht, damit sich die Öffentlichkeit ein Bild davon machen könne, ob es »Anzeichen für das, was er plante und dann tat«, gegeben habe.
Rustad fragte: »Was für eine Art Revolution soll ein Blutbad sein?« Er berichtet von den vielen Reaktionen, die er erhalten habe. Viele beschäftigen sich mit der Frage, ob die Tat zu verhindern gewesen wäre, »wenn Breivik nicht auf Internetseiten wie document.no zugelassen worden wäre, wenn er keine Gleichgesinnten gefunden hätte, wenn dort nicht ein Milieu für Hass geschaffen worden wäre, wenn Anonymität im Internet verboten wäre«, doch Rustad hält dem entgegen: »Wenn es doch so einfach wäre. Im Falle von Anders Behring Breivik wussten wir, wer er war. Wir wussten nur nicht, was er vorhatte.«

Es handele sich um »den bekannte Messianismus«, sagte Finn Skårederud, Professor für Psychiatrie und Autor, der Breiviks Manifest komplett las: »Der Eine, der die Welt retten soll, dazu die Rhetorik vom Jüngsten Tag, Verschwörungstheorien und Kränkungen, die so stark erlebt werden, dass sie gerächt werden müssen, Aktionismus statt Dialog, Kränkungen durch den Vater, die Kleinheit, die mit Phantasien über die eigene Grandiosität kompensiert wird, Mangel an Empathie.« Skårederud kommt zu dem Schluss, dass man sich nicht von Breiviks herbeiphantasierter Grandiosität blenden lassen sollte: »Unser politisches System geriet unter Beschuss von jemandem, dessen persönliche Meilensteine Smestad-Schule, Handelsgymnasium, Fremskrittspartiet und Fitnessstudio waren.«
Auch ein ehemaliger norwegischer Neonazi, Tom Kimmo Eiternes, der bereits vor vielen Jahren aus der Szene ausgestiegen ist, meldete sich zu Wort. Im Gespräch mit dem Fernsehsender NRK sagte der heute 36jährige, er halte Breivik für einen Nazi. Viele der Zitate von Breivik habe er sofort wiedererkannt, »auch wir glaubten ja, dass zukünftige Generationen uns für unseren Kampf feiern würden«.
Als Eiternes die ersten Nachrichten über die Schüsse auf Utøya hörte, »fielen mir gleich zwei meiner ehemaligen Freunde ein, die immer darauf gedrungen hatten, ähnliche Aktionen durchzuführen, zum Beispiel den größten Jugendclub Oslos zu sprengen«. Dass Breivik die Arbeiderpartiet als Volksverräter sah, sei ebenfalls nicht neu – in neonazistischen Kreisen hätten Angriffe auf die AP immer schon als legitim gegolten, »weil man Norweger, die ihr Land verraten, noch mehr verachtete als Einwanderer«.
Dass Breivik in manchen Kommentaren nicht als Nazi bezeichnet wird, nur weil er sich selbst nicht so einstuft, ärgert Eiternes: »Das rechts­extremistische Milieu besteht aus so vielen kleinen Milieus. Es gibt die, die sich damit begnügen, ein paar rassistische Plakate aufzuhängen, die­jenigen, die bewusst Menschen aus anderen Kulturkreisen anpöbeln, und dann eben auch die extrem Militanten, die jegliche Gewalttat für gerechtfertigt halten. Viele dieser Neonazis leben in einer Welt, die nur aus Verschwörungstheorien besteht, und entwickeln daraus eine Ideologie, die eben auch vor Massenmord nicht Halt macht – wie Breivik.«