Transparenz als Fetisch

Aufklärung statt Transparenz

Eine der wichtigsten Forderungen der Piratenpartei lautet: »Mehr Transparenz in der Politik«. Aber was bedeutet das, außer einfach nur ein bisschen Akteneinsicht und Informationsfluss? Und wie viel Transparenz ist eigentlich zumutbar im postdemokratischen Zeitalter?

Der gläserne Bürger wünscht sich den gläsernen Staat, und ebenso wünscht sich die durchsichtige Regierung die durchsichtigen Regierten. Das gehörte seit den Notstandsgesetzen, der Rasterfahndung und der Volkszählung, der Vorratsdatenspeicherung und dem Lauschangriff eigentlich zur Ideologie der Reaktion, und bestimmte die bundesdeutsche Politik in ihren sei es sozialdemokratischen, rechtskonservativen oder neoliberalen Variationen seit den späten sechziger Jahren. Die Linke kannte Vergleichbares nur in ihrer stalinistischen Pervertierung, dem Überwachungsstaat, also in dem, was George Orwell in seinem Roman »1984« beschrieb. Dagegen wurde demokratisch der Schutz der Öffentlichkeit und der Privatsphäre verteidigt. Dass allerdings von keinem Apparat etwas zu erwarten sei, wussten nur Anarchisten und Libertäre. Sie setzten deshalb auf das Klandestine, wenn nicht Konspirative, wählten das Hinterzimmer, also das Abseits als sicheren Ort.
Nun hat eine seit geraumer Zeit als politische Partei im Rechtsstaat zugelassene Gruppierung, die ausgerechnet unter dem Namen »Piraten« zur Wahl angetreten ist, der Dialektik der Aufklärung eine neue Pointe gegeben und ist mit fast nur einem einzigen Programmpunkt, nämlich der Forderung nach mehr Transparenz in der Politik, in den Berliner Senat eingezogen.

Die Forderung nach Transparenz selbst stammt nicht aus dem Repertoire der klassischen Politik, sondern entspringt, wie auch die Piraten und ihre Parteifreunde, dem weiten Feld der Computer- und Internet-Technologie. Sie entstammt also nicht der Realpolitik, sondern reduziert das Politische auf das bloße Verfahren. Inhalt wird durch Information ersetzt, Freiheit ist kein Begriff mehr, sondern nur noch Propaganda. Wie die Piraten ihr Programm angewandt wissen wollen, haben sie bereits selbst vorgeführt als sie den Audio-Mitschnitt eines Kneipengesprächs mit der Linkspartei via Soundcloud ins Netz stellten: mehr als eine volle Stunde realisierte, echte Transparenz. Man darf sich zweierlei ausmalen: wie demnächst doch noch die Grenzen der Speicherkapazitäten des Internet erreicht werden, und wie bald alle lebendige gesellschaftliche Praxis zum Erliegen kommt, weil man nur noch mit dem Abhören der Transparenz-Protokoll-Dateien beschäftigt ist.
Transparenz konterkariert das, was in der klassischen Politik der Moderne als Aufklärung definiert wurde: Wenn Immanuel Kant formulierte, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sei, dann lässt sich aus der Metapher der Aufklärung ein ganzes Zeitalter entfalten, einschließlich der Losung »sapere aude!« und schwerwiegender Probleme der reinen und praktischen Vernunft, Fragen der Erkenntnis und der Moral. Der gesamte Aufstieg und Niedergang des Bürgertums lässt sich daraus herleiten. »Beantwortung der Frage: Was ist Transparenz?« könnte der Titel einer philosophischen Persiflage auf Casting-Show-Niveau lauten. Die Frage lässt sich nur noch redundant und idiotisch beantworten: Transparenz ist Transparenz. Punkt. Kein Erkenntnisproblem, keine Frage der Moral, keine Bestimmung der Vernunft wird davon auch nur annähernd gestreift. Die Klarheit und den Durchblick, welche die Transparenz wo auch immer – politisch, ökonomisch, sozial, privat usw. – verspricht, sind nie mehr als eben einfach Klarheit und Durchblick. Je stärker und energischer Transparenz zur politischen Forderung wird, desto weniger zielt diese Forderung auf mehr und weiteres als einfach nur ein bisschen Akteneinsicht und Informationsfluss.
Sinnbilder für Aufklärung gibt es viele, allein die Lichtmetaphorik schimmert von jeher zwischen lumen naturale und lux interna. Transparenz hingegen hat ein einziges Symbol, und zwar – Glas. Konkret ist zum Beispiel die politische Symbolik der Kuppel des Berliner Reichstags, nämlich Transparenz in die parlamentarischen Vorgänge zu bringen, nicht nur dürftig, sondern geradezu beschämend. Denn dadurch, dass man den Parlamentariern bei ihrer Berufstätigkeit namens Politikmachen zusehen kann, wurde noch nichts von dem, was hier tagtäglich entschieden und beschlossen wird, verhindert, keine Gesundheitsreform, kein Kriegseinsatz und kein Abschiebebeschluss.
So wiederholt die Forderung nach Transparenz als Farce das, was früher einmal im Namen der Aufklärung in der Tragödie mündete, und das ist, zynisch gesagt, der einzige Trost. Die Dialektik der Aufklärung kulminierte im Rückfall in die Barbarei, im systematischen Massenmord und Vernichtungskrieg. Mit Transparenz, so viel darf sicher sein, wird sich kein Abschlachten, kein Elend, keine Erniedrigung und keine Not rechtfertigen lassen und auch nicht rechtfertigen lassen müssen – allein, und deswegen ist dieser Trost zynisch, weil mit Transparenz allerhöchstens Klarheit eingefordert wird. Es wird nämlich der bizarre Wunsch vorgebracht, dass man wenigstens, wenn die Verhältnisse schon nicht zu ändern sind, über sie korrekt informiert werden möchte.
Und auch hier taugt noch einmal die Reichstagskuppel als Sinnbild der Transparenz: Partizipation wird zum demokratischen Beobachten, zu einem invertierten Panoptismus. Der Blick funktioniert hier umgekehrt, die Bewachten beobachten ihre Wächter.
Transparenz gehört zu den Mechanismen der Gouvernementalität und ist gleichsam ein Kon­trollwerkzeug zur Kontrolle der Kontrollwerkzeuge. Schlussendlich konvergiert im postdemokratischen Zeitalter die Demokratie mit der politischen Polizei. Freiheit ist in der Perspektive der Transparenz lediglich ein Verfahren, Politik ein Diskurs, der durch allerhand Mächte bestimmt wird, die es hier und da zu regulieren gilt: Transparenz gegen die Lüge, gegen die Heimlichkeiten und das Gemauschel, gegen Filz und Korruption.

Die Transparenz hat zur härtesten Gegnerin die Verschwörung, mit der sie aber ebenso kooperiert – ihr Postulat der Klarheit überzeugt nur, wenn auch der Verdacht der Unklarheit, der Vertuschung überzeugt. »Big Brother is watching/So are we«, heißt treffend ein Werbespruch von Wikileaks.
Die Forderung nach Transparenz folgt dem Wunsch, gut regiert zu werden, was ja bereits das Einverständnis darüber voraussetzt, überhaupt regiert zu werden. Das Schema dafür ist jedoch nicht länger der Staat, also die Politik und die dazugehörige Regierung, sondern ein kybernetisch amalgamierter Konsumismus, eine Verschmelzung von Waren- und Technikfetisch. Die geforderte Transparenz hätte bestenfalls zur Folge, dass man in der institutionalisierten Politik über die Inhaltsstoffe und Herstellungsbedingungen informiert wird, ähnlich den Angaben auf Nahrungsmitteln, Bekleidung und dergleichen. Kritik im Sinne dieser Transparenz wäre dann höchstens die Skandalisierung fehlender oder mangelhafter Transparenz. Insofern ist Transparenz buchstäblich der letzte Reflex der Gesellschaft des Spektakels, die absolute Ästhetisierung der Politik als totale Durchsichtigkeit: Nur gucken, nicht anfassen!
Transparenz ist zunächst ein bloß technischer Begriff aus der Physik, der insbesondere in der Farbenlehre Durchsichtigkeit und Lichtdurchlässigkeit bezeichnet. Mit kaum einer anderen Bedeutung ist Transparenz allerdings seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in das ideologische Vokabular der späten Moderne und kurzen Postmoderne eingegangen. Aus- und Einblicke sollen gewährleistet werden, das Modell dafür ist nicht mehr die Bühne, sondern die Oberfläche, der Bildschirm, ja Flat-Screen. Weder gibt es, wie in der Aufklärung, die Verblendung, noch gibt es die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung. Transparenz folgt der Parole: »What you see is what you get.« Damit ist krude die technologische Rationalität in postdemokratischen Zeiten benannt: als Banalität des Guten.

Transparenz ist der Fetisch der Kommunikationsgesellschaft. Sie wird spätestens dann zur Ideologie, wo sie zum Zweck an sich deklariert und die schwierige Arbeit am Begriff, das Denken, in der Überzeugungskraft des bloß sinnlichen Erlebens, in Illustration, Illusion und Abbild aufgelöst wird. Transparenz ist eben nicht reflektiertes Verstehen, sondern einfach nur Durchsichtigkeit. Die Rhetorik der Transparenz folgt der bloßen Meinung: Allein um möglichst viele per Transparenzverfahren zugänglich gemachte Informationen verarbeiten zu können, muss auf jede Methode – also auf jeden womöglich versteckten Umweg – verzichtet werden; die freie Rede ist die unmittelbare Rede, der kein Gedanke und kein Denken mehr vorhergehen muss. Die Instanz, die hier spricht, ist nicht mehr das Über-Ich, erst recht kein Ich und nicht einmal das Es, sondern der hypertextuelle Kommentar. Myspace, Youtube, Twitter und Facebook sind die in den Produktionsverhältnissen materialisierte Ideologie und demonstrieren, wie sich die politische Transparenz schon mit techno-ästhetischer Penetranz vereint und zur Penetransparenz gerinnt.
Mögen die Piraten als Partei bald wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden sein: Mit ihrem Minimalprogramm, der Forderung nach Transparenz, haben sie dem Zeitgeist, oder was von ihm übrig geblieben ist, Gestalt und Ausdruck gegeben. Es ist eine Art pseudointellektueller Populismus, der hier bedient wird, den auch jemand wie Heiner Geißler seit jeher bedient, zuletzt durch die Live-Übertragung der Verhandlungen zu »Stuttgart 21«. Die Mitmachbürger kaprizieren sich aufs Verfahren, Demokratie fungiert als Open-Source-Software, Politik insgesamt wie ein Copyleft-Programmiercode.
Dagegen ist das Hinterzimmer zu verteidigen, nicht nur für klandestine Gespräche und konspirative Getränke, sondern auch, um einfach einmal seine Ruhe zu haben – vorm Bescheidwissen des über alles und nichts informierten Idiotismus der penetranten Transparenz. Für das richtige Licht im Dunkeln.