Bau einer Straße stürzt Regierung in die Krise

Evo im Rückwärtsgang

Der Streit um einen Straßenbau durch das Gebiet von Indigenen hat die Regierung Boliviens in eine Regierungs Krise gestürzt. Minister sind zurückgetreten, und auch die Glaubwürdigkeit des Präsidenten hat schwer gelitten.

Den Ort San Lorenzo de Yucumo kennt in Bolivien seit dem 25. September jedes Kind. Dort ist die Polizei gewaltsam in ein Lager von Demonstranten eingedrungen, um den Marsch der Indigenas auf die Hauptstadt La Paz zu beenden. Diese waren fünf Wochen zuvor aufgebrochen, um vor dem Amtssitz von Evo Morales ihren Widerstand gegen den geplanten Bau einer Straße durch ihr Territorium zu bekunden. Die Bilder des Einsatzes von Schlagstöcken und Tränengas gegen die Demons­tranten – darunter viele Frauen und Kinder – gingen um die Welt und lösten eine Welle der Empörung aus. Menschenrechts- und Umweltschutzorganisationen kritisierten die Regierung, und auch die Vereinten Nationen meldeten sich zu Wort. Der friedliche Widerstand der Indigenas sei ein legitimes Mittel gegen die Pläne der Regierung, lautete die vorherrschende Meinung.
Das betroffene Gebiet besteht vorwiegend aus Regenwald. Und diesen wollen die Demonstranten vor Abholzung und Ausbeutung schützen. Deshalb hatten sie zuvor etliche Petitionen eingereicht – ohne Erfolg. Die Regierung habe sich bei den Verfahren nicht an die gesetzlichen Normen gehalten, kritisieren die gewählten Vertreter der Demonstranten aus San Ignacio de Moxos, wo das erste Teilstück der Straße gebaut werden soll. Dieses soll die Departamentos Beni und Cochabamba verbinden. Vor allem gegen diese Route richten sich die Proteste aus zahlreichen der 64 Dörfer in der Region, die von drei verschiedenen indigenen Gruppen bewohnt wird.

Dabei befinden sich die Proteste eigentlich im Einklang mit dem umweltfreundlichen Image, das sich die Regierung selbst gab. Noch Ende 2010 hatte das bolivianische Parlament ein Umweltschutzgesetz verabschiedet, das die Pachamama (»Mutter Erde«) als eigenständiges Rechtssubjekt anerkennt – ein international vielbeachteter Schritt. Schon acht Monate später wird die Umwelt gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung anscheinend weniger wichtig genommen. Für den Fortschritt der Region, so argumentierte die Regierung in den vergangenen Wochen, sei die Straße unbedingt nötig.
Die geplante Straße, die von San Ignacio de Moxos in das Kokaanbaugebiet Chapare führen soll, ist als Teil einer Route konzipiert, die das südliche Amazonasgebiet mit dem Pazifik verbindet. Doch die geplante Strecke führt mitten durch das 12 000 Quadratkilometer umfassende Naturschutz- und Indigenengebiet Isiboro-Sécure. Die Demonstranten verlangen deshalb eine Streckenführung, die um das indigene Territorium und den Nationalpark herumführt.
Doch nicht nur die Verkehrsplaner sind an der Region interessiert. Über die Straße sollen zukünftig Rohstoffe aus Brasilien zu den Pazifikhäfen und von dort nach Asien gelangen. Ebenso hat die bolivianische Agrarlobby ein Interesse an der Strecke, um etwa Sojabohnen und Hühner besser nach Brasilien oder Asien exportieren zu können. Nicht zuletzt hat auch der natio­nale Erdölkonzern YPFB, der auf der Suche nach neuen Erdgas- und Erdöllagerstätten ist, ein Auge auf die Region geworfen, wie die Nichtregierungsorganisation Tierra berichtet, die sich seit mehr als 20 Jahren mit Landkonflikten und Landrechten befasst.

Klassische Wirtschaftsinteressen sind also der Grund für den Straßenbau in der Region, der auch im strategischen Interesse Brasiliens liegt. Tatsächlich finanziert der einflussreiche Nachbar über die staatliche Entwicklungsbank BNDES die Schnellstraße zu erheblichen Teilen mit. Weitere Abschnitte der Gesamtroute sind längst im Bau. In Bolivien gilt jedoch seit dem brutalen Einsatz gegen die Demonstranten ein Baustopp. Morales verkündete diesen persönlich, nachdem sich das Vorgehen der Polizei als desaströs für das Image der Regierung erwiesen hatte. Entsprechend zurückhaltend trat der Präsident zuletzt auf. »Unverzeihlich« nannte er das Vorgehen der Ordnungskräfte.
Nun soll ein Referendum in den beiden betroffenen Verwaltungsbezirken eine Lösung bringen. Doch ein Vorgehen, das die Rechte der indigenen Bevölkerung wirklich respektiere, sehe anders aus, kritisieren Aktivisten. Immerhin haben die Indigenas formell das Recht auf eine Befragung, Consulta genannt, wenn in ihren Territorien Ressourcen gefördert werden sollen. Warum dies nicht für eine Straße gelten soll, mit der die Region für die Förderunternehmen erschlossen wird, kann Gonzalo Colque, der Vorsitzende von Tierra, nicht nachvollziehen. »Die Rechte der Ureinwohner waren nützlich, um die Reden zu schmücken«, sagte er der BBC, »aber in dem Moment, wo es um deren Durchsetzung geht, hat sich die Regierung entschieden, zugunsten des Fortschritts einen Rückzieher zu machen«.
Für den Präsidenten und seine Regierung war dies eine folgenschwere Entscheidung. Der Polizeieinsatz löste nicht nur Massenproteste im Land aus, auch mehrere Kabinettsmitglieder traten zurück, darunter Verteidigungsministerin Cecilia Chacón. Diese schrieb dem Präsidenten zum Abschied die harschen Zeilen: »So nicht! Wir haben mit dem Volk vereinbart, die Dinge anders zu machen.« Boliviens erster indigener Präsident muss sich zweifellos an diesem Maßstab messen lassen, und die Diskussion um den Straßenbau könnte die Glaubwürdigkeit der Regierung nachhaltig erschüttert haben. Zwar ist die Regierung seit dem Polizeieinsatz um Schadensbegrenzung bemüht – so wurde der Innenminister ausgetauscht und angekündigt, den Einsatz von internationalen Experten untersuchen zu lassen –, aber die entscheidende Frage bleibt, ob eine größere Partizipation überhaupt erwünscht ist. »Eine indigene Regierung, die indigene Demons­tranten von der Polizei zusammenprügeln lässt, hat in Bolivien niemand erwartet«, sagte einer der Demonstranten im Anschluss an den Polizeieinsatz. Die Folgen für die Regierung in La Paz sind noch nicht absehbar.