Die Verdrängung von Obdachlosen aus den Innenstädten

Verordnete Unwirtlichkeit

Mit Sprinkleranlagen, Gitterzäunen und Bußgeldandrohungen werden Obdachlose aus den Innenstädten verdrängt.

Als Unbekannte Anfang Oktober das Auto des Hamburger SPD-Politikers Falko Droßmann demolierten und dessen Haus mit Parolen beschmierten, schwante Droßmann, worum es ging. »Ich werde mich aber nicht einschüchtern lassen«, teilte er der Presse mit. Droßmann gilt als einer der Hauptbefürworter eines umstrittenen Zauns gegen Obdachlose. Für 18 000 Euro hatte ihn Ende August das Bezirks­amt unter der Kersten-Miles-Brücke im Stadtteil St. Pauli errichtet, nach heftigen Protesten wurde der Zaun Ende September wieder abgebaut (Jungle World 40/11). Die Obdachlosen sollen dennoch weg: Ein »Runder Tisch« unter der Leitung der Nordelbischen Kirche will daran nun »lösungsorientiert« arbeiten.
Die Verdrängung von Obdachlosen ist in Hamburg auch andernorts vorgesehen: Ab dem 1. November erhält die Deutsche Bahn auf den Außenflächen rund um den Hamburger Hauptbahnhof ein »Sondernutzungsrecht«. Gegen die Zahlung einer Gebühr wird der Bahn damit das Hausrecht auf den bislang öffentlichen Flächen erteilt. Private Sicherheitsdienste dürfen dann, Platzverweise erteilen und durchsetzen. Das Vorgehen könnte auf Bahnhöfe in anderen Städten ausgeweitet werden. Stefan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei der Hamburger Obdachlosenzeitschrift Hinz &  Kunzt, sagt, der Zaun sei »bundesweit einmalig«, doch Versuche, Wohnungslose aus dem Stadtbild zu tilgen, »die gibt es natürlich immer wieder«.

Bundesweit sind es etwa 20 000 Menschen, die dauerhaft auf der Straße leben, schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), hinzu kommen Kurzzeit-Wohnungslose. Mit einer sinnvollen Straßensozialarbeit und Wohnungsbaupolitik ließe sich das Problem der Wohnungslosigkeit innerhalb weniger Jahre »auf ein Minimum begrenzen«, glaubt BAGW-Geschäftsführer Thomas Specht. Obdachlosigkeit sei auch eine Folge der allseits beklagten Gentrifizierung. Durch »übergroße Modernisierung« stiegen die Mieten, »Normalwohnraum« werde knapp und der soziale Wohnungsbau werde nicht ausreichend betrieben, um dies auszugleichen. »Dann steigt der Druck auf die Straße.«
Und dort wird es immer ungemütlicher für jene, die wenig haben. Und das nicht erst, seit die Bahn im Zuge ihrer Privatisierung anfing, ihre Bahnhöfe in erster Linie als Kaufhäuser zu vermarkten. »Die Lebensbezüge in den Innenstädten stehen immer mehr und einseitiger unter dem Diktat von Konsumorientierung«, schreibt die Caritas-Wohnungslosenhilfe in einem Positionspapier. Ein Mittel zur Verdrängung sind sogenannte »Straßensatzungen.« Es gebe kaum eine größere Stadt, die nicht eines dieser »menschenunwürdigen Dokumente bürokratischer Regelungswut verabschiedet« habe, beklagt die Caritas. Völlig legale Tätigkeiten wie das Herumstehen zum Zweck des Alkoholkonsums, das Schlafen in Parks oder auf öffentlichen Plätzen werden zu »nicht erlaubnisfähigen Sondernutzungen« öffentlicher Räume. Bei einem Verstoß droht ein Bußgeld.
Die meisten dieser Straßensatzungen stammen aus den neunziger Jahren. Aufschlussreich ist ein Blick auf die Debatten dieser Zeit, in der die amerikanische »Broken Windows«-Theorie auch in Deutschland Freunde fand. »Es ist nun mal so – wo Müll ist, sind Ratten, und wo Verwahrlosung herrscht, ist Gesindel. Das muss beseitigt werden in der Stadt!« sagte etwa der durch seine zweifelhafte Rolle im Bankenskandal bekannt gewordene Berliner CDU-Abgeordnete Klaus Rüdiger Landowsky. Jürgen Gehb (CDU), früherer Bürgermeister von Kassel, klagte: »Wir ziehen das Gesocks hier an, in jeder Beziehung, zu uns kommen alle, auch Penner und andere Leute, die in der Peripherie weggejagt werden.« Ähnlich sah das auch der frühere Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft des Einzelhandels: »Sogenannte urbane Exoten wie Obdachlose, Bettler, Punker und Drogenabhängige im Pulk« würden in Innenstädten »ihre Lager aufschlagen und über aggressives Betteln, Anpöbeln und Drogenexzesse die Passanten aus den Innenstädten vertreiben«.

1996 legte der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) mit seiner »Aktion Sicherheitsnetz« den Grundstein für die Straßensatzungen und Ordnungspartnerschaften, bei denen private Sicherheitsdienste, Geschäftsleute und Behörden zusammenarbeiten. Ziel der »Aktion Sicherheitsnetz« war »die entschlossene Verteidigung der öffentlichen Ordnung gegen Rüpelszenen«. Sie wirkt bis heute nach.
Vor allem über ein Bettelverbot hofften viele Städte, die Unerwünschten loszuwerden. Doch mehrere Gerichte entschieden, dass Betteln als »gesellschaftliche Erscheinung hinzunehmen« sei. Fortan setzte sich der bis heute nur vage bestimmte Begriff des »aggressiven Bettelns« in den Straßenordnungen durch.
»Sondernutzungen sind nichts außergewöhnliches«, sagt ein Sprecher des Deutschen Städte­tages. Nach einer Untersuchung von Titus Simon von der Hochschule Magdeburger-Stendal gaben 72 Prozent von 616 befragten deutschen Städten an, Ende der neunziger Jahre Satzungen erlassen zu haben, um den Aufenthalt missliebiger Personengruppen einzuschränken.
2005 setzte die Stadt Köln gar Bußgelder für das Durchsuchen öffentlicher Mülleimer fest – Obdachlose sollten nicht mehr nach Pfandflaschen suchen. Die Regelung wurde allerdings nach Protesten gekippt. Die niedersächsische Stadt Celle ging noch weiter. Seit Ende der neunziger Jahre erhalten Ladendiebe im Wiederholungsfall ein Stadtverbot – sie dürfen die Stadt nicht mehr betreten. Sind sie dort gemeldet, sind Altstadt und City für sie tabu. »Wir waren da Vorreiter«, sagt die Stadtsprecherin. Jedes Jahr verhängt Celle durchschnittlich 14 solcher für ein Jahr geltenden Verbote, 250 Euro kostet der Verstoß. »In der Regel betrifft das Suchtkranke, wegen der Beschaffungskriminalität«, sagt die Sprecherin. An der Praxis wird bis heute festgehalten. Die BAGW hält sie für grundgesetzwidrig. Doch Junkies klagen kaum gegen schikanöse Behörden.

Nicht nur auf juristischem Weg, sondern auch mit Baumaßnahmen gehen die Kommunen gehen Obdachlose vor: Sprinkleranlagen, abgeschrägte Ebenen, Bänke mit gewölbten Sitzschalen, Betonklötze auf freien Flächen oder spitze Gitter an Hauswänden. »Die Welt ist voll von Architektur, die Obdachlosen das Leben schwer macht,« sagt Stephan Nagel, Referent für Wohnungslosenarbeit beim Diakonischen Werk. In Paris hat sich das Künstlerkollektiv »Survival Group« dem Kampf gegen das obdachlosenfeindliche Stadtmobiliar verschrieben. »Der eigentlich freie Raum wird materiell in Besitz genommen, auf autoritäre Art und Weise«, sagt Arnaud Elfort von der »Survival Group«. »Das ändert die soziale Stimmung. Eine Stadt wird dadurch bedrohlich.«
Juristisch hat die Vertreibungspolitik nun aber möglicherweise einen Rückschlag erlitten, zumindest was Bahnhöfe betrifft. Im Februar hat das Bundesverfassungsgericht mit einem Grundsatzurteil festgestellt, dass Verkehrseinrichtungen, die teils in öffentlichem Besitz sind, als »Orte allgemeinen kommunikativen Verkehrs« gelten. Es erlaubte im konkreten Fall eine Demonstration am Frankfurter Flughafen. Ein »herausragender« Richterspruch, sagt Wolfgang Hecker, Jura-Professor an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. »Wenn sogar das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewährleistet ist, gilt dies zweifelsfrei erst recht für ein bloßes Verweilen und einen Aufenthalt in den Bahnhöfen.« Die Konsequenz sei eindeutig: »Niemand darf aus dem Bahnhof verdrängt werden, nur weil er sich nicht in das auf Konsum und Verkehr begrenzte Marketingkonzept der Bahn einfügt«, sagt Hecker.