Das Urteil gegen die Patentierung von embryonalen Stammzellen

Auch Zellen haben Rechte

Der Europäische Gerichtshof hat die Patentierung von embryonalen Stammzellen und von Erfindungen, die durch sie ermöglicht werden, verboten. In ihrem Urteil beschreiben die Richter die befruchtete Eizelle bereits als Embryo. Befürworter des Urteils begrüßen den konsequenten Schutz menschlichen Lebens, Kritiker warnen vor einer »Forschungswüste« in Europa.

Oliver Brüstle wirkte nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) am Dienstag vergangener Woche ein wenig niedergeschlagen. Der Bonner Stammzellforscher ist die prominenteste Person in dem Prozess vor dem EuGH, obwohl es längst nicht mehr um ihn allein geht. Schon gar nicht ging es um die ursprüngliche Patentanmeldung Brüstles. Er hatte bereits im Jahr 1997 ein Verfahren zur Gewinnung von neuronalen Vorläuferzellen aus embryonalen Stammzellen beim Deutschen Patentamt angemeldet. Diese Zellen wollte er Patienten injizieren, um die Regeneration beschädigter Organe zu ermöglichen. In ferner Zukunft, so der langgehegte Traum der Stammzellforscher, sollen mit Hilfe veränderter embryonaler Stammzellen Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson heilbar werden.
An die embryonale Stammzelle sind dabei große Hoffnungen geknüpft, denn im frühen Entwicklungsstadium eines Embryos können sich diese Zellen noch in alle anderen Körperzellen weiterentwickeln. Sie sind pluripotent. Das Patent wäre wahrscheinlich ohne großes Aufsehen genehmigt worden, doch im Fall von Brüstle wurde Greenpeace sehr schnell hellhörig, klagte gegen die Patentierung – und blieb hartnäckig, während sich das Verfahren von Instanz zu Instanz zog.

Zunächst gab im Jahr 2006 das Deutsche Patentgericht der Umweltschutzorganisation Greenpeace Recht. Es untersagte Brüstle die Patentierung von Vorläuferzellen, »die aus embryonalen Stammzellen von menschlichen Embryonen gewonnen werden«. Gegen diesen Entscheid legte der Stammzellforscher Beschwerde ein, und das Verfahren wurde an den Bundesgerichtshof (BGH) weitergereicht. Dort erkannten die Richter scheinbar schnell, dass das Urteil elementare Fragen berühren würde, beispielweise ab wann man bei einer befruchteten Eizelle von einem Embryo sprechen kann. Sie verwiesen den Fall an den EuGH, der nun ein weitreichendes Urteil gefällt hat. Für die Politologin Dr. Ingrid Schneider vom Forschungsschwerpunkt Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt (Biogum) an der Uni Hamburg erfolgte der Verweis an den EuGH in der Hoffnung auf »ein liberales Urteil«. Das Urteil der europäischen Richter ist indes alles andere als forschungsliberal ausgefallen. Die Straßburger Richter untersagen nämlich jede Patentierung von Verfahren, für die embryonale Stammzellen benötigt werden. Und zwar unabhängig davon, wie alt der menschliche Embryo ist.
Die Reaktionen auf das Urteil in Deutschland fielen fast einhellig positiv aus. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war erfreut über die Entscheidung aus Luxemburg. Sie schaffe »mehr Klarheit und Rechtssicherheit«, sagte die FDP-Politikerin in Berlin. Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) feierte das Urteil als »Erfolg für die Menschenwürde und deutliches Signal gegen den Machbarkeitswahn des Menschen«.
Das Straßburger Gericht folgte in seiner Urteilsbegründung den Ausführungen des Generalanwalts Yves Bot. Dieser versteht unter einem Embryo alle Zellstadien nach der Befruchtung. Das ist eine sehr weite Auslegung des Embryonen-Begriffs, und es ist ein Novum in der Geschichte der Patentstreitigkeiten, dass ein Gericht in einem solchen Verfahren Begriffe wie »Menschenwürde« verwendet. »Normalerweise versteht sich das Patentrecht als wertneutral. In diesem Verfahren zogen die Richter für ihr Urteil maßgeblich ethische Überlegungen heran«, sagt Ingrid Schneider.

Das Urteil ergänzt die bestehende EU-Richtlinie 98/44, die »die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen und kommerziellen Zwecken« für nicht patentierbar erklärt. Dies gilt nun für alle Stammzellen, die aus einem Embryo gewonnen wurden. Und es betrifft auch die Forschung, denn das Gericht urteilte, dass zu den »industriellen oder kommerziellen Zwecken« auch diese zähle. Demnach dürfen Stammzellforscher wie Brüstle in dem Rahmen, der von den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU vorgesehen ist, weiter forschen, ihre Ergebnisse jedoch nicht patentieren lassen. Brüstle warnte nach dem Urteilsspruch dann auch vor der Gefahr eines ökonomischen Abstiegs Europas auf dem Gebiet der Biomedizin. »Die Entwicklung biomedizinischer Verfahren wird in den USA oder in Asien stattfinden«, sagte Brüstle. Doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass solche Drohungen ebenso fiktiv sind wie die übertriebenen Versprechungen der Biomedizin. Denn noch kann die Stammzellforschung keinerlei Erfolge vorweisen. Die großspurigen Versprechungen der neunziger Jahre, wonach es bereits in zehn Jahren erste erfolgreiche Anwendungen beim Menschen geben würde, haben sich als nicht haltbar erwiesen. Weltweit gibt es noch kein Verfahren, in dem embryonale Stammzellen bei Menschen zu Heilungszwecken eingesetzt werden. »Die sichere und standardisierbare Ausdifferenzierung zu reifen Zellen ist noch keinem Forscher gelungen. Zudem besteht eine Tumorgefahr beim Einsatz von embryonalen Stammzellen«, warnt Ingrid Schneider. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Befürchtungen Brüstles als übertrieben. Zumal Verfahren, die in der Forschung in Europa entwickelt werden sollten, sich nicht so leicht im Ausland werden patentieren lassen. Denn auch das US-Patentamt muss prüfen, ob das Verfahren wirklich patentwürdig ist. Wenn es bereits in Europa veröffentlicht wurde, dürfte es nicht patentierbar sein. Schneider stellt die »Patentfokussierung« generell in Frage. »Patente können die Forschung einengen. Insofern nutzt das Urteil der Forschung mehr, als dass es sie behindert«, sagt die Politologin.
Das Urteil betrifft auch Stammzelllinien, die bereits vorliegen und für die keine neuen Embryonen erzeugt werden müssten. Brüstle kann nämlich in Deutschland nicht an neu gewonnenen Stammzelllinien forschen, sondern gemäß der Rechtssprechung nur an ohnehin vor einem Stichtag bereits bestehenden. Aber auch bei diesen untersagten die Richter jede Patentierung. Ihre Argumentation: Auch für diese Stammzelllinien wurden in der Vergangenheit Embryonen vernichtet. Indirekt wird an dieser Stelle die Widersprüchlichkeit europäischer Rechtssprechung deutlich, denn die deutsche Stichtagregel wird durch das Urteil eindeutig in Frage gestellt. Den Richtern war diese Problematik sehr wohl bewusst. Das Thema, sagte sie, sei »in vielen Mitgliedsstaaten gesellschaftspolitisch sehr sensibel und von unterschiedlichen (…) Werthaltungen geprägt«. In der Tat wirft das Urteil weitreichende Fragen auf. In Deutschland gilt die befruchtete, entwicklungsfähige Eizelle als Embryo, während man in Spanien erst nach der Einnistung in die Gebärmutter von einem Embryo spricht. Ähnlich weit auseinander liegen die EU-Mitgliedsstaaten beim Umgang mit der Stammzellforschung. Während Deutschland der Forschung sehr enge Grenzen setzt, wird dieser Forschungszweig in Großbritannien sehr liberal gehandhabt – einschließlich des Umgangs mit Klonversuchen. Ob das Urteil nun weitere Debatten oder gesetzliche Konsequenzen in den einzelnen Mitgliedsstaaten nach sich zieht, ist derzeit nicht absehbar. Deutlich wird an dieser Stelle zum wiederholten Male, dass die Rechtssprechung sich sehr schwer tut mit den Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie. Die Forschung verlangt in immer neuen Bereichen eine neue ethische und moralische Orientierung, die sich dann in Gesetzen niederschlägt. Genau so schnell werden Bestimmungen jedoch obsolet. Denn die Stammzellforschung ist seit Beginn des Verfahrens um Brüstle vorangeschritten.

Die neue Hoffnung der Forscher liegt in den sogenannten iPS-Zellen (induzierte pluripotente Stammzellen). Sie werden aus ausgereiften Körperzellen von Erwachsenen entwickelt, indem diese in eine Art Stammzellzustand zurückprogrammiert werden. Die erhoffte Wirkung ähnelt jener der embryonalen Stammzellen, denn auch die iPS-Zellen können sich theoretisch zu allen Körperzellen ausdifferenzieren. »Der Vorteil der iPS-Zellen besteht darin, dass für sie zum einen kein Embryo vernichtet werden muss, und zum anderen weniger Abstoßungsreaktionen durch den Körper zu erwarten sind. Und noch ein entscheidender Faktor entfällt: man benötigt keine Eizellspenderinnen«, fasst Ingrid Schneider zusammen. Gerade die Frage der Eizellspenderinnen wird in der Debatte um die Forschung an embryonalen Stammzellen oftmals ausgeblendet. Die Embryonen für die Forschung sind nämlich nicht immer die übriggebliebenen von künstlichen Befruchtungen, sie werden zum Teil aus Eizellspenden erzeugt. Kritiker befürchten gerade in ärmeren Staaten einen Handel mit Eizellen zum Nachteil der betroffenen Frauen.
Eine Einschränkung haben die Straßburger Richter in ihrem Urteil dann aber doch gemacht. Die Patentierung der Verwendung menschlicher Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken bleibt erlaubt, wenn durch das Verfahren unmittelbar eine schwere Krankheit oder eine Behinderung von Embryonen verhindert werden kann. Aber auch in diesem Bereich ist die Forschung noch sehr weit von ihren ursprünglichen Zielen entfernt. Pharmafirmen haben auch wegen dieser mangelnden Erfolge in der Vergangenheit ihr Engagement im Bereich der Stammzellforschung reduziert. Geld ließ sich bislang mit keiner einzigen veränderten Stammzelle gewinnen. Daran wird sich auch so schnell nichts ändern, so dass das Straßburger Urteil mit Sicherheit zu einem nicht beiträgt: zu einer wirtschaftlichen Abkopplung Europas auf dem Feld der Biotechnologie.