Liebesgeschichten aus Peking

Beijing Love Stories

Drei Mädchen sitzen auf zwei Fahrrädern mit insgesamt fünf Sätteln, vor einem Brückengeländer knabbert man lebende Heuschrecken von Holzstäbchen. Die beiden Männer im Auto daneben entscheiden sich zum spontanen Deutschunterricht. Es könnte ein sehr langweiliger Samstagabend in Peking werden. Doch dann geschehen seltsame Dinge.
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»Will you marry me?« steht auf dem Display des iPhone, das mir der Fahrer direkt vor die Nase hält. Erstaunt sehe ich es an. Meine Nase befindet sich gerade im Trommelturmviertel in Peking. Genauer gesagt in einem Mietwagen auf einer kleinen Kanalbrücke. Menschen in uniformähnlichen Hemden stehen darauf und vertreiben mit strengem Winken jedes sich nähernde Auto. Es sei denn, man winkt mit einem Geldschein zurück. Wie wir gerade eben.
Der namensgebende Turm wurde übrigens um 1420 von Kublai Khan erbaut und bildet das nördliche Ende der sogenannten kaiserlichen Achse, die sich durch die ganze Altstadt zieht. Das weiß ich allerdings nur, weil ich für einige Tage zur Reportage in Peking bin, das mittlerweile 16 Millionen Einwohner hat.

An einem Samstagabend wie jetzt gerade interessiert Pekings Baugeschichte niemanden hier. Dann wird das Trommelturmviertel zum Hauptaufmarschgebiet fürs Nachtleben. Meine beiden Mitreisenden Susann und Thomas haben mich hier zurückgelassen. Vor etwa einer Stunde. Eigentlich wollten sie nur kurz den Kanal entlang, um nach dem »East Shore Jazz Café« zu suchen, das während der Demonstrationen auf dem Tian’anmen-Platz einer der Treffpunkte der chinesischen Opposition war und bis heute betrieben wird. Aber wahrscheinlich haben die beiden irgendwo weiter hinten hochinteressante Orte entdeckt, wegen derer sie mich skrupellos hier haben sitzen lassen. Und außerdem – seien wir ehrlich – kommen sie allein viel schneller voran als mit mir und meinen beiden Stöcken. Der Fahrer tippt weiterhin auf seinem iPhone herum. Man hat ihn uns für heute Abend vermittelt, weil er angeblich sehr gut Englisch spricht. Diese Legende konnte er für cirka 35 Sekunden aufrecht erhalten, als er sich mit den Worten »I’m Michael« bei uns vorstellte. Junge Chinesen, das weiß ich bereits aus den Erfahrungen der vergangenen Tage, halten sich für den Umgang mit Ausländern oft einen englischen Zweitnamen. Als ich ihm allerdings mit der inhaltlich komplexen Formulierung »And my name is Knud. How are you?« antwortete, kramte er sofort seine technische Hilfe hervor. Die hält er mir übrigens gerade schon wieder direkt unter die Nase. »You are very beautiful«, steht diesmal auf dem Display. »Right?« fragt Michael. Zur Antwort nicke ich irritiert. Irritiert drehe ich mich in Richtung Fenster. Was will dieser Mann von mir? Fragen kann ich nicht – ohne iPhone und mit Sprachkenntnissen in Mandarin, die auf »Nihao« (»Guten Tag«) begrenzt sind.
Draußen hat die Zahl der Nachtschwärmer deutlich zugenommen. Auf dem Brückengeländer vor meinem Seitenfenster kichern mittlerweile einige dezent geschminkte Schülerinnen. Kichernd knabbern sie kleine Bissen von Holzstäben. Bei näherem Hinsehen erkenne ich, dass diese Bissen Heuschrecken sind, die man der Länge nach gepfählt hat. Lebende Heuschrecken. Bevor die Tiere zwischen Teeniezähnen ihr Leben aushauchen, zucken sie hilflos mit ihren fadendünnen Beinen. Manchmal halten die Mädchen inne, um ein Bein zwischen ihren Zähnen hervorzupulen. Dann lachen sie besonders laut. Ich scheine einem gängigen Ritual beizuwohnen, mit denen sich junge Pekingerinnen auf eine zünftige Zecherei vorbereiten.
Von hinten tippt mich Michael an. »I adore you« ist diesmal auf seinem iPhone zu lesen. »Right?« Ernsthaft überlege ich, den Wagen zu verlassen, als mein Fahrer auf einen Knopf drückt, wodurch sich mein Seitenfenster absenkt. Ernsthaft schaut er auf die Mädchen auf dem Geländer. »Beautiful?« wiegt er den Kopf. Dann kommt er zu einer Entscheidung und nickt entschlossen. »Beautiful!«

Die Situation ist so absurd, dass ich etwa drei Sekunden lang hilfesuchend nach Susann und Thomas Ausschau halte. Dann muss ich plötzlich lachen. Michael lacht mit. Bis er plötzlich auf die zwei Mädchen vor uns zeigt und streng fragt: »Beautiful?« »Beautiful!« lege ich mich fest. Damit ist der Bann gebrochen. Die kommende Viertelstunde verhalten wir uns wie zwei Schwerstpubertierende auf dem Schulhof. Da wir kurzerhand jedes vorbeiflanierende weibliche Wesen zur Schönheit erklären, riskieren wir nichts. Im Gegenteil: Einige von ihnen kichern zurück, und als zwei Mädchen Kusshände werfen, kann ich Michael nur mit sanfter Gewalt davon abhalten, mich und den Wagen unserem Schicksal zu überlassen. Die Lage ändert sich, als nach einiger Zeit eine weitere, schon deutlich angetrunkene Horde Männer auf uns zu kommt. Sie tragen bedruckte Shirts, Bierdosen in den Händen, und ihr Akzent weist sie deutlich als Australier aus. »Bruce?« grüße ich übermütig geworden in ihre Richtung. Tatsächlich drehen sich zwei von ihnen in meine Richtung. Die Jungs lassen wirklich kein billiges Klischee aus, und ich habe mich scheinbar in einen 13jährigen verwandelt. Während ich noch lache, fragt Michael mit Blick auf die Freundinnen der Australier zum ungefähr fünfzigsten Mal »Beautiful?«. Doch diesmal kommt er zu einem anderen Schluss. »No«, ruft er, während die Gruppe an meinem geöffneten Fenster vorbei kommt. Mehrere Männer, darunter einer der beiden Bruces, halten mitten im Schritt inne und gucken böse. Der zweite Bruce schlägt probehalber mit der flachen Hand auf die Motorhaube. Geistes­gegenwärtig gibt Michael Gas, so dass wir mit einem weiteren Schlag auf den Kofferraum davon kommen. Die nächsten zehn Minuten kurven wir ziellos durch die Gegend. Ich entscheide mich zu einer spontanen Deutschstunde. »In English: beautiful«, referiere ich. »In German: schön«.
»Shouena«, wiederholt Michael. »Exactly: Shouena«, bestätige ich. Das könnten selbst zufällig vorbeiziehende Deutsche nicht verstehen. Ab sofort bin ich in Sicherheit. Als wir unseren Ausgangspunkt erreichen, sind die Australier verschwunden, und einen Geldschein später dürfen wir auch wieder unseren Parkplatz einnehmen.
Michael drückt an seinem iPhone herum, bis er mit dem Ergebnis zufrieden ist. »I take a rest!« Damit hebelt er den Fahrersitz entschlossen in die Ruheposition, lehnt sich zurück und schließt die Augen.
»Äh...«, versuche ich unser Gespräch am Laufen zu halten, doch Michael reagiert nicht mehr. Einigermaßen verdrossen schaue ich nach draußen. Einer der Heuschreckenmörderinnen vom Geländer ist es mittlerweile gelungen, sich einen Mann heranzuzwinkern. Ziemlich unbeholfen steht der herum und muss sich von ihren Freundinnen von oben bis unten anstarren und auskichern lassen. Zugegebenermaßen sieht mit seinem Oberhemd und den streng gescheitelten, schon etwas dünn werdenden Haaren auch nicht nach dem unwiderstehlichsten Beau aus, den man diese Nacht heranblinzeln kann. Aber er zaubert eine Flasche Cognac aus seinem Rucksack hervor und lässt sie unter den Mädchen kreisen. Das Kichern wird auf der Stelle deutlich wohlwollender. Als seine Auserwählte an der Reihe ist, streichelt ihr der Mann über den Hinterkopf, während sie trinkt. Und nutzt die Chance, gleichzeitig die Flasche festzuhalten, so dass das Mädchen ungefähr die dreifache Menge wie die anderen in sich hineinschüttet. Erst hustet sie, dann kichert sie, dann stößt sie sich die Flasche entschlossen noch einmal ins Gesicht. Der Mann schüttelt ungläubig den Kopf. Das kann unmöglich gut ausgehen. Doch das Mädchen verjagt ihre Freundinnen plötzlich mit entschiedenen Armbewegungen, er umarmt sie vorsichtig an der Schulter und führt sie ein paar Meter.

Immerhin schafft er es im letzten Moment, sich und seine neue Freundin vor zwei Fahrrädern in Sicherheit zu bringen, die auf dem Uferweg schlingernd auf sie zuhalten. Auf einem Tandem sitzen ein Junge und ein Mädchen. Sie halten Händchen, während sie auf der Brücke ankommen und an unserem Wagen vorbeifahren. Komplizierter gestaltet sich die Situation auf dem anderen Gefährt, einem sogenannten Tridem mit drei Sätteln, die ich in den letzten Tagen häufig in Peking gesehen habe. Dort sitzt ein Mädchen zwischen zwei Jungs. Sie hat sich bereits entschieden und krault eifrig den Rücken vor sich. Der Junge hinter ihr aber mag noch nicht aufgeben und greift beherzt nach ihrem rechten Oberschenkel. Kein Wunder, dass sie nur durch Zufall an dem Heuschreckenmädchen vorbeischrammen. Ebenso knapp übrigens wie an unserem Auto.
Als das Tridem kaum einen Meter vor uns zum Stehen kommt, wird das Mädchen deutlich und beschimpft den Jungen hinter sich so laut, dass der den Kopf einzieht und absteigt. Um sein Gesicht nicht ganz zu verlieren, schlägt er zum Abschied mit geradezu australischer Wucht gegen das Rad, das zurückrollt und gegen unseren Wagen prallt. Michael schreckt auf, peilt kurz die Lage und hupt so heftig und unerwartet, dass das Mädchen verschreckt vom Tridem springt und sich in die Arme des Jungen am Lenker flüchtet. Der winkt kurz und entschuldigend in unsere Richtung, bevor er seine Chance nutzt und konzentriert zu knutschen beginnt.
Michael will sich entspannt zurücklehnen, als ihm etwas einfällt. Er wählt eine Nummer auf seinem iPhone. Am anderen Ende ertönt die Stimme einer jungen Frau. Michael redet auf sie ein, mit plötzlich deutlich dunklerer Stimme. Obwohl ich natürlich kein Wort verstehe, zwinkert er mir mehrfach spitzbübisch zu. Plötzlich verstehe ich ein Wort. Beautiful. Und dann einen kurzen Satz: »I adore you«. »Kanude« verstehe ich dann schon weniger. Michael hält mir das iPhone ans Ohr.
»Your name«, bittet er.
»Kanude?« fragt die Frauenstimme.
»Knud«, korrigiere ich.
Dann lachen die beiden in erheblicher Lautstärke. Plötzlich wird Michael ernst. »Will you marry me?« Im nächsten Moment schmiegt sich das iPhone wieder an mein Ohr.
»Name again«, bittet Michael.
»Knud«, sage ich.
»Thank you«, sagt die Frau.
Dann verabschieden sich die beiden, und Michael klappt den Sitz wieder zurück. Als er sich diesmal nach hinten legt, sieht er ernsthaft aus. Andächtig fast. Er schließt die Augen, und mir bleibt wieder nur, aus dem Fenster zu sehen, wo sich das Tridem-Paar inbrünstig küsst.
Auch die Heuschrecken-Esserin und ihr Galan scheinen sich näherzukommen. Mit glasigen Augen schaut sie ihn an. Mit beiden Händen fährt sie ihm über die Hemdsärmel und fasst an seine Schulter. Dann wird ihr Blick noch etwas glasiger. Sie beugt sich an seiner Schulter vorbei und kotzt eine Pfütze in Cognac eingelegter Insekten direkt neben ihn. Dann schaut sie ihn an und fängt an zu weinen. »I love you«, gesteht sie stammelnd. Ohne ein iPhone zu befragen. Sie versucht, sein Gesicht an das ihre zu ziehen. Bis zu meinem Seitenfenster kann ich den Kampf spüren, der in ihm tobt. Einerseits dürften ihre Lippen die schönsten sein, die den seinen seit langer Zeit so nahe gekommen sind. Aber andererseits auch die übelstriechenden. Allzu lange dauert der Kampf nicht. Dann verkrampft sich ihr Körper. Mit Mühe schafft sie es noch, sich von ihm wegzudrehen, bevor sie wieder zu kotzen beginnt.
»Vorsicht, hey!« Vor lauter Überraschung vergisst Thomas für ein paar Sekunden sein Englisch. Gemeinsam mit Susann ist er aus dem Dunkel aufgetaucht. Mit einer eleganten Bewegung schiebt er das Mädchen, das jetzt wieder weint, in die Arme des Mannes.
Susann kommt zum Auto und beugt sich zu meinem Fenster herunter. Sie schaut auf den schlafenden Fahrer. Zu den beiden Jugendlichen vor der Frontscheibe, die sich über den Lenker eines am Boden liegenden Tridems hinweg küssen. Und zeigt mit dem Daumen auf das Mädchen, das noch immer im Arm ihrer zusehends überforderteren Flirtbekanntschaft liegt und mittlerweile dazu übergegangen ist, gleichzeitig zu weinen und Liebe zu schwören. Wenn sie nicht gerade kotzt.
»Ist irgendwas Wichtiges passiert?« fragt Susann.
Ich weiß es wirklich nicht.