Libyen nach dem Tod Gaddafis

Er war viel kleiner

Das libysche Regime war ganz auf die Person Gaddafis zugeschnitten. Nach seinem Tod beginnt das nation building.

Tareq Zawabi war ein wenig enttäuscht. »Er sah nicht so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war viel kleiner.« Der »Revolutionsführer« Muammar al-Gaddafi hatte den Libyern 42 Jahre lang den Eindruck vermittelt, er sei larger than life. Im Kühlhaus wollte sich Zawabi, wie zahlreiche andere Einwohner Misratas, das monatelang von den Truppen des Diktators beschossen worden war, persönlich davon überzeugen, dass Gaddafi wirklich tot ist.
Das mehrtägige public viewing war nicht sehr geschmackvoll, wer sich »Körperwelten« oder Mumien und Moorleichen in Museen anschaut, hat allerdings wenig Grund, sich über »barbarische Araber« zu ereifern. Offenbar wurde Gaddafi nach seiner Gefangennahme erschossen. Für Diktatoren gehört das zum Berufsrisiko. Überdies sollen die Umstände seines Todes von einer unabhängigen Untersuchungskommission geklärt werden, ein Vorgehen, das man sich auch im Westen nach ungeklärten Todesfällen in Polizeigewahrsam zum Vorbild nehmen sollte.
Beunruhigender ist, dass im Streit um die Leiche Gaddafis manche Milizionäre sich zunächst nicht an die Anweisungen der Übergangsregierung gebunden fühlten. Man muss dies nicht als Anzeichen für einen beginnenden Bürgerkrieg werten, zumal letzlich klargestellt werden konnte, dass die Politik das Gewehr kommandiert, und Gaddafi begraben wurde. Doch anders als in Tunesien und Ägypten stehen die Revolutionäre in Libyen vor der Aufgabe, alles neu aufzubauen.
Die Diktatoren und Autokraten der Region legitimieren ihre Herrschaft unter Berufung auf die Religion und die Nation, also auf Ideologien, die unabhängig vom jeweiligen Herrscher existieren. Gaddafi aber hat mit seinem naiv-reaktionären »Grünen Buch« und seinen exzentrischen politischen Wendungen eine allein auf seine Person zugeschnittene Ideologie geschaffen, die nach seinem Tod nur noch Historiker und Satiriker interessieren dürfte. Auch staatliche Insti­tutionen gab es, abgesehen vom Repressionsapparat, nur in rudimentärer Form. Erstmals in der Geschichte des libyschen Nationalstaats muss nun so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag ausgehandelt werden.
Das hat auch Vorteile. Anders als in Ägypten wird es keinen Militärrat geben, der die Demokratisierung blockieren will, und die Anhänger des alten Regimes können sich im Kampf um die Erhaltung ihrer Privilegien nicht auf institutionelle Macht stützen. Illegale und halblegale ­Gewerkschaften und Oppositionsgruppen, die in Ägypten und Tunesien bereits vor der Revolu­tion existierten, fehlen jedoch ebenfalls. Es gibt keine Tradition, auf die eine Demokratiebewegung aufbauen könnte.
Dennoch bildeten sich im befreiten Bengasi umgehend selbstorganisierte Gruppen, die Verwaltungsaufgaben übernahmen. Angesichts der Erfahrungen mit der Diktatur liegt es nahe, sich für die Menschenrechte und ein demokra­tisches System einzusetzen. Doch wie in anderen arabischen Staaten hat zunächst die am straffsten organisierte und finanzkräftigste Oppositionsgruppe, die islamistische Bewegung, die besten Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Die ­Politisierung der Bevölkerung hat gerade erst begonnen, Liberale, Linke und Gewerkschafter brauchen Zeit, um sich zu organisieren.