Zum Tod von Friedrich Kittler

Es singen die Sirenen

Zum Tod des Literatur- und Medientheoretikers Friedrich Kittler.

Eindeutiger geht es nicht: »Los, komm hierher!« rufen die beiden Frauenstimmen dem Besucher von der Insel aus zu. »Wir wissen alles, was jetzt ist, was war und was sein wird!« singen sie in schönstem Griechisch. Weil sie alles wissen und alle Lust versprechen, soll der Besucher an der Küste der Insel anlegen und zu ihnen kommen. Sie sind die Sirenen, und er ist Odysseus.
Klarer als in dem Hörbuch »Musen, Nymphen und Sirenen« von Friedrich Kittler ist die Symbiose von Lust und Wissen niemals dargestellt worden. Da will man doch hin, wenn man so eingeladen wird, ist doch völlig unverständlich, dass man da nicht anlandet, kommentierte der Literatur- und Medienwissenschaftler Kittler die Homersche Odyssee. Der in Freiburg promovierte Germanist gehörte zu den wenigen Professoren der deutschen Wissenschaftsszene, die nie davor zurückschreckten, an dem Ast, auf dem sie sitzen, auch zu sägen. Als Germanist hat er die Bedeutung der Medien, mit denen ein Text erzeugt wird, immer betont. Bereits die Titel seiner Bücher – »Aufschreibesysteme«, »Grammophon, Film, Typewriter«, »Optische Medien« und zuletzt »Musik und Mathematik« – unterstreichen das. Die Descartes’sche Formel »Ich denke, also bin ich« hielt Kittler für reine Hybris, weil sie das Prozesshafte des Denkens verkenne. Ob es der Mensch ist, der denkt, wenn jemand auf einer Schreibmaschine Buchstaben vor sich hintippt, könne man schlicht nicht wissen. Nie vergaß Kittler dabei die Sekräterinnen und Stenotypistinnen zu erwähnen, die mit der Schreibmaschine viel besser umgehen könnten als die meisten Männer. Welchen Anteil die Sprache und die Schreibmaschine am Denken des Schreibers haben, hatte noch niemand untersucht – bis Kittler kam. Mit dem Sammelband »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« wurde er 1980 mit einem Schlag weit über die Grenzen seines Fachs bekannt. Der Tenor seiner Aufsätze lautet, dass ohne ein Verständnis der Möglichkeiten und Beschränktheiten der Techniken und Medien, mit denen Literatur, Kunst und Philosophie ihre Werke hervorbringen, jede Analyse harmlose Sinnsuche oder schlechte Nacherzählung sei.
Dass die Geschichte von Odysseus bis heute ohne ein Verständnis über die Möglichkeiten des Mediums erzählt wird, bot Kittler 2005, als sein Hörbuch erschien, auch den Anlass, sich ganz aus der Medienwissensschaft zurückzuziehen. Aus diesem Grund kann man das Hörbuch zu Odysseus’ Sirenen auch als eine Art Vermächtnis des am 18. Oktober in Berlin verstorbenen Germanisten lesen.
Die Überlieferung sagt, Odysseus, der sich am Schiffsmast hatte festbinden lassen, habe, als er den süßen Gesang der Sirenen vernahm, zwar den Freunden befohlen, seine Fesseln zu lösen, doch zur Begegnung mit den Sirenen sei es nicht gekommen. Schließlich musste Odysseus befürchten, dass seine daheimgebliebene Gattin ihn nicht mehr annehmen würde, falls er sich den Sirenen hingegeben hätte.
Kittler befand, diese Darstellung sei Unfug. Odysseus sei natürlich dem Ruf der Sirenen gefolgt, sei aber klug genug gewesen, es nicht weiterzuerzählen. Um diese These zu untermauern, hat sich der 1943 geborene Germanist auf eine Reise nach Italien begeben. Nach 2 800 Jahren – so alt ist in etwa die Erzählung der Odyssee – habe er die Philologie auf eine empirische Basis stellen wollen, um nicht immer bei der »Textwichserei« zu bleiben, heißt es zu Beginn des »Sprechbuchs«. Nachdem er dieses Wort so beiläufig hingeworfen hat, steckt er sich, gut hörbar, eine Zigarette an und atmet das Gift tief ein. Dass er starker Raucher war, ist Teil einer Erzählung, die als die Einführung des Punk in die deutsche Philosophie und Philologie gelten darf. Punk ist es deshalb, weil Kittler mit dem gesprochenen Text im Hörspiel hinter die geschliffene Schriftsprache zurückgeht. Er liest keinen wohlformulierten Text vor, er erzählt, was ihn an Odysseus, den Sirenen und dem griechischen Denken fasziniert und warum er sich auf die Reise der Empirie begeben hat. Man sollte den Punk Kittlers allerdings nicht mit den musikalischen Stumpfheiten des Genres verwechseln. Der bis zu seiner Emeritierung an der Berliner Humboldt Universität lehrende Literatur- und Medienwissenschaftler war überaus belesen und mit den Feinheiten der griechischen Sprache so vertraut, dass er Philosophen wie Theodor W. Adorno und Michel Foucault in Nebensätzen als Laien des Griechischen entlarven konnte. Seine Fähigkeit zur Improvisation war – um bei Vergleichen mit der Musik zu bleiben – die eines Jazzmusikers, dem auch nach 56minütigem Spiel  – so lang ist das Hörbuch – die Ideen nicht ausgehen. Punk meint im Zusammenhang mit diesem großartigen Hörspiel, dass man dem Theoretiker dabei zuhören kann, wie er das Einfache, Klare des griechischen Denkens unter dem Schleier von zweitausend Jahren christlicher Verblendung wieder hervorholt.
Die Insel der Sirenen existiert: Li Galli liegt im Golf von Salerno. Kittler und sein Team waren hingefahren, waren angelandet und konnten sehen und hören, dass auch Odysseus hier gelandet sein musste. Das war das Ergebnis der experimentellen Überprüfung. Vor den Sirenen musste sich niemand fürchten, auch den Griechen hatten sie keinen Grund dazu gegeben. Es waren Musen, die ohne tieferen Grund sangen, um zu singen, und sie waren auf der Insel im salzigen Meer auch süßwasserspendende Nymphen. Trinkwasser, sagt Kittler, ist eine Gabe der Nymphen. »Musen, Nymphen und Sirenen« kann nicht zuletzt auch als ein feministischer Text verstanden werden, der von der Utopie erzählt, dass der Gesang der Frauen nicht mehr als Bedrohung empfunden, sondern ungestört empfangen wird.