Gespräch über Pornos und Kunst

Hochgefickt

Sasha Grey kommt vom Porno und ist jetzt ein Hollywoodstar, der Fotokunstbücher veröffentlicht.

Viele Frauen drehen an ihrem 18. Geburtstag ihren ersten Pornofilm und glauben, das sei die Hintertür zu einer Hollywood-Karriere. Es ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich, dass du die neue Meryl Streep wirst, wenn du deine Filmkarriere mit zwei Schwänzen im Arsch beginnst.« Die drastische Sprache passt nicht so recht zu der gepflegten Frau im Arztkittel. Dr. Sharon Mitchell weiß, wovon sie redet in Jens Hoffmanns Dokumentarfilm »9 to 5: Days in Porn«. Mitchell hat 20 Jahre lang als Pornodarstellerin gearbeitet, über 200 Filme, 38 Mal führte sie Regie. Sie war 16 Jahre lang heroinabhängig und machte Bekanntschaft mit Hepatitis, Herpes, Chlamydien und Trichomoniasis. 1996 wird sie von einem Stalker überfallen und vergewaltigt. Dieses Erlebnis bezeichnet sie heute als Weckruf, sie ändert ihr Leben, kommt weg von der Droge und studiert Sexualwissenschaften. 1998 gründet sie die Adult Industry Medical Health Care Foundation, medizinische Hilfe und psychologische Beratung für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter. Sharon Mitchells Karriere vom gefallenen Mädchen zur Frau Doktor, die gefallenen Mädchen hilft, klingt wie ein Märchen aus Hollywood.
Das gilt auch für die Laufbahn von Sasha Grey. Die 23jährige Ex-Porno-Darstellerin ist die Ausnahme von der Regel, dass eine Frau es nicht nach Hollywood schafft, wenn sie ihre Karriere mit zwei Schwänzen im Arsch beginnt. Sasha Grey hat erreicht, wovon Millionen Sexarbeiterinnen träumen. Nicht den eigenen Kosmetik­salon, nein, den Ausstieg aus dem Porno als Aufstieg ins seriöse Fach. Damit ist Grey die derzeit exponierteste Figur in der expandierenden Grauzone zwischen Pop und Pornographie.
Einer Grauzone und Oscar Wildes Dorian Gray verdankt sie ihren Namen. Auf der Skala von Dr. Kinsey steht die Null für eindeutig hetero, sechs für eindeutig homosexuell: »Ich bin de­finitiv in der Grauzone, ich sehe mich auf der Skala bei drei«, erzählt Sasha Grey nach drei Minuten Interview, es ist das letzte an einem langen Tag in Frankfurt im Rahmen der Ausstellung »Bodies of Babel«. Sie ist der Stargast eines Festivals, bei dem auch Peaches, Diedrich Diederichsen und Chris & Cosey die Schnittstellen zwischen Pop und Porno bespielen. Sasha Grey ist hier, um ihr Fotobuch »Neü Sex« zu promoten. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, von der viele Mädchen träumen. Manche enden im Albtraum.
Marina Ann Hantzis, wie Sasha Grey eigentlich heißt, kommt 1988 in Kalifornien zur Welt, der Vater ist aus Griechenland eingewandert. Mit 18 geht sie nach Los Angeles, gibt sich einen neuen Namen und dreht ihren ersten Pornofilm, Dutzende folgen. Mit 21 ist sie der größte Star der Branche. Und schafft den Sprung vom San Fernando Porn Valley nach Hollywood. In Steve Soderberghs »Girlfriend Experience« spielt sie die Hauptrolle. Sie dreht Videoclips mit Pop-Größen wie Eminem, den Smashing Pumpkins und The Roots, mit ihrer Band aTelecine macht sie »experimentellen Ambient Industrial« nach dem Vorbild von KMFDM. Der Gründer dieser vergessenen deutschen Band heißt Sascha Konietzko. Daher der Vorname Sasha.
Ja, Pornodarstellerinnen sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Woher hatte eigentlich Gina Wild ihren Namen? Vielleicht ist Sasha Grey bald so populär wie Lady Gaga, so komplex und widersprüchlich wie der größte Popstar des Planeten ist die Person, die sie öffentlich darstellt, schon heute. Wie Gaga bietet sie sich an für zwei konträre Lesarten:
1. Die feministische Emanzipationsgeschichte: Junges Mädchen aus prekären Verhältnissen gerät in die Pornomaschinerie, arbeitet hart an sich, wehrt sich, schafft den Ausstieg und verwirklicht selbstbestimmt ihre künstlerischen Ambitionen.
2. Die neoliberale Karrierelüge: Junges Mädchen aus prekären Verhältnissen geht nach Porn Valley, arbeitet hart und schafft es durch die Hintertür nach Hollywood. Clevere Drahtzieher bauen sie als exotische Figur der Szene auf, Gothic-Schneewittchen mit abseitigen künstlerischen Neigungen (Sartre! Godard!! Einstürzende Neubauten!!!).
Grey ist nichts von beidem in Reinkultur, ihr Verhältnis zu Porno pendelt zwischen Affirmation und Subversion. Aber taugen diese Katego­rien überhaupt noch? Wie bei Lady Gaga kommt man mit den alten Dichotomien nicht weiter: High vs. Low Culture? Mainstream vs. Underground? Trash vs. Kunst? Ausbeutung vs. Autonomie? Kulturindustrieprodukt vs. Autorin? Gaga und Sasha sind immer beides: offen ausgestellte Performativität und mit vollem Körpereinsatz zertifizierte Personality.
Pornofragen: Was bedeutet es eigentlich, dass jeder junge Mensch mit Internetzugang anderen beim Sex zugeschaut hat, bevor er zum ersten Mal selbst Sex hat? Erleichterung? Belastung? Fortschritt? Backlash?
Wie rede ich mit einer mir unbekannten, über 30 Jahre jüngeren Frau, wenn ich eben noch zur Vorbereitung »Sasha Grey DP« in die Suchmaschine eingegeben habe und nach fünf Sekunden eine doppelt penetrierte Sasha Grey auf dem Bildschirm auftaucht? Na ja, »Hallo« sagen und losreden.
Den Interview-Marathon bewältigt Sasha Grey souverän, sie trägt ihre Sasha-Schneewittchen-Maske und demonstriert Professionalität, zugewandt, sympathisch, Antiimperialisten würden sagen: amerikanisch. Sie beherrscht die Kunst, die zentralen Botschaften zur Vermarktung ihres Buches und ihrer selbst zu platzieren, ohne dem Interviewer das Gefühl zu geben, nicht auf seine besonderen Fragen und Wünsche einzugehen. Die beim Interview übliche Gratwanderung zwischen persönlichem Kontakt und Tauschgeschäft, verschärft durch die Tatsache, dass ich weiß, wie es zwischen ihren Beinen aussieht. Mir ist das unangenehmer als ihr. Denke ich.
»Ich möchte meinen Körper als Leinwand benutzen.« Das ist so ein Sasha-Grey-Satz. Cindy Sherman bewundere sie sehr. Klingt mehr nach Kunst als nach Porno, ist der erste Gedanke. Das haben ihr irgendwelche Leute eingeflüstert, um sie interessant zu machen, ist der erste Gedanke von professionell abgewichsten, habituell pornokritischen, weil jeden Verblendungszusammenhang todsicher durchschauenden, link(sli­beral)en Kollegen, denen ich das Thema Grey anbiete. Diese Pornotante kennen sie nicht, aber spannend finden sie das schon. Und in dem Zusammenhang könnte man doch noch mal auf den unsäglichen Charlotte-Roche-Hype eingehen. Ach so.
»Ich war ja nie die klassische Sexbombe, ich wollte immer ich selbst sein. Dann kamen andere Angebote, Film und Fernsehen, also musste ich mich entscheiden.« Noch so ein Sasha-Grey-Satz. Ständig fallen die Worte »empowerment« und »control«, von ihr selbst, und von den (männlichen) Kritikern, die Sasha Greys Geschichte gerne so erzählen: aus der abhängigen Porno-Aktrice wird die selbstbestimmte Akteurin, schließlich die Autorin. Klar guckt ein halbwegs zivilisierter Mann lieber einer Frau zu, die sich freiwillig einen Schwanz über die Würgegrenze hinaus in den Hals rammen lässt, selbstbestimmt kotzt und das souverän akteurinnenmäßig kommentiert, als einer Frau, der der Opferstatus ins Gesicht geschrieben steht.

Wie stehst du (»Du? Danke, englische Sprache, dass du kein Sie kennst«) zum Opferdiskurs im Porno?
Den verdanken wir den Konservativen. Und Linda Lovelace. (Anmerkung: Lovelace spielt 1972 die Hauptrolle in »Deep Throat«, dem ersten Hardcore-Porno, der Kunstfilmprestige erlangt.) Lovelace hat für ihre Zeit ziemlich extreme Sachen gemacht und dann hat sie Alarm geschlagen und gejammert, dass sie dazu gezwungen wurde. Aber du hast die Macht, Nein zu sagen.
Hast du mal Nein gesagt?
Ich musste niemals Nein sagen. Wenn ich zum Set kam, habe ich mit dem Regisseur geredet und mit dem Darsteller. Ich habe ihnen erklärt, womit ich einverstanden bin und wo meine Grenzen sind.
Wo waren deine Grenzen?
Eine meiner Regeln war (lacht): Schlage oder quetsche meine Brüste nicht. Am Anfang hat mir das gefallen, aber dann hatte ich Angst, das könnte gesundheitsschädlich sein.
Aber du machst doch noch ganz andere Sachen?
Da weiß ich mehr drüber. Analsex: das ist ein Muskel, den du trainieren kannst, das ist bei den Brüsten anders. Einmal hat einer meine Brüste geschlagen, da habe ich zurückgeschlagen, das war eine tolle Erfahrung.
Würdest du dich als Feministin bezeichnen?
Nein, das Wort Feminismus ist so beliebig, es gibt Feministinnen, die sehr konservativ sind, für die ist ein Händedruck gleich eine Vergewaltigung. Und dann hast du das Gegenteil, viele Frauen im Pornogeschäft, die sich für Feministinnen halten. Ich sehe mich als »sexually empowered women« und ich hoffe, dass ich auch andere Leute damit ermutige.

Grey spricht viel von den Konservativen und der religiösen Rechten in den USA, die Porno bekämpfen. In ihren Augen fällt das Recht auf Porno unter Freedom of Speech und Pursuit of Happiness, ist also quasi von Natur aus eine Errungenschaft, die Liberale und Linke verteidigen müssen. Dieser Diskurs überlagert Debatten um Ausbeutung und Gewalt und begünstigt die popkulturelle Nobilitierung von Pornographie. Danach gehört »Porn« heute zur Dreifaltigkeit von Sex & Drugs & Rock’n’Roll, was auch die vielen Typen in Ramones-T-Shirts erklärt, die man bei Pornoproduktionen sieht. Und die Surfer-Bodies mit ihren Red Hot Chili Peppers-Tattoos. Sasha Greys zierlicher Körper ist frei von Tattoos und Implantaten.

Hast du nicht eine singuläre Karriere gemacht? Die Eine, die schafft, wovon alle träumen?
Naja, Traci Lords hat es vorgemacht, sie arbeitet noch, der große Unterschied ist der: ich bereue nichts von dem, was ich getan habe. Das war bei ihr anders, ich bin stolz auf meine Zeit in der Pornoindustrie. Außerdem verkörpere ich rein äußerlich nicht den typischen Pornostar, das ist mein Vorteil. Heute sind viele Frauen im Porno all natural, sie sehen aus wie das Mädchen von nebenan.
Außerdem habe ich meinen Mund aufgemacht. Ich bin nicht dahin und habe gesagt: Okay, ich bin bereit, nimm mich! Ich habe zwar nicht Regie geführt, in gewisser Weise aber doch, ich hatte Kontrolle über die Szenen und habe bestimmt, wohin es geht.
Woher kommt das?
(Lacht) Ich glaube, ich war immer so. Wenn du sexuell extrem unterdrückt wirst und dann da rauskommst, dann kämpfst du hinterher umso mehr. Ich genieße es, andere zu ermutigen, sich nicht zu schämen und Angst zu haben.
Wir müssen noch über das Buch reden.
Ich habe mein Leben dokumentiert vom ersten Tag an, als ich nach L. A. kam, eine Art Selbstprüfung. Mein Agent meinte, daraus müssen wir ein Buch machen.

Auf einem Foto posiert Sasha mit Cosey Fanni Tutti, einer Hälfte von Chris & Cosey. Die ehemalige Stripperin und Pornodarstellerin transformiert in den Siebzigern ihre Erfahrungen in die sexualpolitische Performance-Praxis eines transgressiven Transgender-Industrial-Bandprojekts: Throbbing Gristle – damals skandalös, heute Kunst im Museum. Beim Festival »Bodies of Babel« stellt Cosey mit warmen Worten Sasha Greys Buch vor. Ein rührendes Bild, die herb-souveräne Art-School-Domina um die sechzig erklärt, wie sehr sie die Arbeit von »my friend Sasha« bewundere, und Sasha strahlt wie die ehrgeizige Tochter.
Im Buch sehen wir Sasha Grey mal nackt, mal halbnackt, mal im AC/DC-Shirt vor dem Sex, nach dem Sex – aber niemals beim Sex. »Neü Sex« ist Sex ohne explizite Bilder. Das funktioniert, weil der Betrachter die explizite Sasha Grey im Gedächtnis gespeichert hat. Weil er weiß, dass er auf das, was er hier nicht sieht, jederzeit zugreifen kann, per Mausklick.

Warum heißt das Buch ›Neü Sex‹?
Eigentlich sollte es ›New Sex‹ heißen, aber das fand ich langweilig. Dann habe ich mich an die Band NEU erinnert, die ich sehr mag … «
NEU? Eine obskure Krautrockgruppe aus Düsseldorf, die 15 Jahre vor deiner Geburt ein paar Platten gemacht hat?
Ja, die habe ich irgendwo entdeckt … 
Und was bedeutet der Umlaut in ›Neü Sex‹?
Ach, das ist ein Gruß an Motörhead.

»Yoü and I« heißt auch die aktuelle Single von Lady Gaga, Schlockrock mit Queen-Gitarrist Brian May. Zwecks Erweiterung der Produkt- und Personality-Palette läßt sich Gaga einen Remix von den Wild Beasts anfertigen, englische Indie-Wimps sub- bzw. pervertieren Gaga-Power, auch eine Nobilitierung. Pragmatismus, Phantasie, Unternehmerinnengeist sowie die Bereitschaft, das Äußerste zu geben – Gaga und ­Sasha teilen nicht nur die Neigung zum Umlaut.
»Ich wollte zeigen, dass Frauen genauso pervers sein können wie Männer.«
Der Sasha-Grey-Satz bekommt viel Applaus beim »Bodies of Babel«-Podium. Applaus von Männern aller Altersklassen, Applaus von jungen Sasha-Grey-Lookalikes. Die wollen möglicherweise rauskriegen, ob Porno als Karriereoption taugt.

Sasha Grey: Neü Sex. Heyne Hardcore, München 2011, 192 Seiten, 19,99 Euro