Proteste in Griechenland

Kampf vor dem Parlament

Aus Protest gegen die Sparmaßnahmen der griechischen Regierung kam es am Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche zum größten Generalstreik seit Jahrzehnten. Er endete mit gewalttätigen Ausschreitungen auf dem Syntagma-Platz in Athen.

»Was wir hier erleben, sind die letzten Tage von Pompeji«, sagt Eleni P. besorgt. Die 49jährige Privatangestellte hat wie Hunderttausende von Griechen in der vergangenen Woche zwei Tage gegen die neuen Sparmaßnahmen der Regierung unter Giorgos Papandreou protestiert. Ausgerüstet mit der Stoffmaske, die sie schon im Sommer in der Apotheke besorgt hat, um sich vor dem Tränengas der Polizei zu schützen, und in der Hoffnung, dass ihre Stimme von den Parlamentariern gehört wird. Vergebens. Fast eine halbe Million Menschen demonstrierten nach Angaben der Gewerkschaften am 19. Oktober, dem ersten Tag des 48stündigen Generalstreiks, in Athen, Hunderttausend andere in den restlichen Städten Griechenlands. Beobachtern zufolge war es der größte Protest der letzten 30 Jahre. Junge Menschen, Hausfrauen, Rentner, Selbständige, Beamte und sogar Ladenbesitzer fordern den Sturz der Regierung. »Wir schließen für einen Tag, damit wir nicht für immer schließen«, so der Verband der Handwerker und Kaufleute. Am Rande der Proteste kam es, wie mittlerweile üblich, in Athen zu Ausschreitungen zwischen Vermummten und Polizeieinheiten. Am Donnerstag vergangener Woche, dem zweiten Tag des Generalstreiks, sollten die Proteste ihren Höhepunkt erreichen. Denn an diesem Tag stimmte das griechische Parlament über eine weitere Verschärfung der Sparpolitik ab, es ging um das sogenannte Multigesetz, das unter anderem Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst, Lohn- und Rentenkürzungen, Steuererhöhungen sowie einschneidende Veränderungen im Arbeitsrecht beinhaltet. Diese Sparmaßnahmen sollen die Voraussetzung für weitere Finanzhilfen aus dem Ausland sein.
Doch der erwartete große Massenprotest vor dem Parlament am Tag der Abstimmung fiel aus. Für den frühen Donnerstagmorgen mobilisierten die stalinistisch orientierte Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), deren Jugendorganisation und die der KKE nahestehende Gewerkschaft Pame Tausende ihrer Anhänger, um das Parlament einzukreisen. Mit roten Fahnen in den Händen bildete sie eine »Schutzwand« gegen anarchistische und linksradikale Gruppen, die zur Erstürmung und Besetzung des Gebäudes aufgerufen hatten, um weitere Sparbeschlüsse zu verhindern. Bis zum Abend sollen die Pame-Mitglieder dort bleiben, forderte eine strenge Frauenstimme am Mikrophon.
Auf Indymedia ist später zu lesen, dass der Ordnungsdienst der KKE Personenkontrollen durchführte, um »anarchistisch aussehende« Menschen daran zu hindern, auf den Platz zu gelangen. Es ist Mittag. Die Sonne scheint, die Luft ist klar, in der näheren Umgebung sieht man keine Polizeieinheiten. Unter den Demonstranten breitet sich Unmut über KKE- und Pame-Mitglieder aus. »Diese Kommunisten stehen vor dem Parlament und lassen keinen durch«, brüllt ein junger Mann. Es kommt zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern der Pame und Demonstranten der Initiative »Den Plirono« (»Wir zahlen nicht«). Wasserflaschen aus Plastik fliegen. Ein paar Minuten später eskaliert die Situation. Vermummte greifen Pame-Mitglieder an, die mit Knüppeln antworten. Es fliegen Steine von beiden Seiten und vereinzelt Molotowcocktails auf die Menschenmenge. Dutzende werden verletzt. Die gewalttätigen Szenen werden live vom Fernsehen übertragen. Der Syntagma-Platz verwandelt sich in eine Kampfzone. Nur sind es dieses Mal nicht Polizisten, die gegen Demonstranten vorgehen, sondern die Anhänger von KKE und Pame kämpfen gegen Anarchisten, Linksradikale und andere Demonstranten.

Wie später offiziell bekanntgegeben wurde, hatte die Pame-Führung die Polizei gebeten, sich nicht einzumischen, damit die Situation nicht eskaliert. Die MAT-Spezialeinheiten der Polizei greifen erst ein, als die Situation völlig außer Kontrolle ist, werfen Tränengas und drängen die Demonstranten vom Syntagma-Platz. Der 53jährige arbeitslose Bauarbeiter und Pame-Gewerkschaftler Dimitris Kotsaridis stirbt, vermutlich an Herzversagen. Die Todesursache ist noch ungeklärt, bei der Demonstration habe er Atemprobleme bekommen. Sie sollen Zeugen zufolge durch den Einsatz von Tränengas ausgelöst worden sein. Die Staatsanwaltschaft hat bereits eine Untersuchung angeordnet.
Die Nachricht von Kotsaridis’ Tod erschütterte Griechenland, obwohl wegen der sehr angespannten Stimmung schon längst nicht nur mit einem Toten, sondern mit mehreren gerechnet wurde. Die Vorsitzende der KKE, Aleka Papariga, genannt »der weibliche Stalin«, behauptete zum Tod des Gewerkschaftlers, es sei ein organisierter Angriff von vermummten Provokateuren gewesen, die »spezifischen Mechanismen« dienten.
Griechische Analytiker sind besorgt über die Folgen der Gewalttaten, die an Bürgerkriegsverhältnisse erinnern: »Das Schlimmste wäre, wenn diese gewalttätigen Auseinandersetzungen sich auch in anderen sozialen Bereichen verbreiten, in Form einer Racheaktion, die den offenen politischen Kampf in eine Arena umwandeln würde«, schreibt die linksliberale Tageszeitung Eleftherotypia. Bisher hatten die KKE und die Pame ihre Demonstrationen meist getrennt von denen der anarchistischen, antiautoritären Gruppen abgehalten. Spyros Marketos, Professor für Politikwissenschaft an der Aristoteles-Universität von Thessaloniki, ist jedoch optimistisch, was die Zukunft der Proteste in Griechenland angeht: »Das griechische Volk radikalisiert sich, besonders die Jugend, und dies ist das Hoffnungsvollste, was heute passiert. Man muss sich die Mobilisierung der Massen vom Anfang der Krise bis heute als eine Reihe von Wellen vorstellen: Im Laufe der Zeit werden diese Wellen dichter und tiefer, sie dauern länger, sind höher, und die Zwischenräume sind kürzer geworden. (…) Das Volk ist aufgewacht, lauscht, verlangt, kämpft.«
Eleni P., die Privatangestellte, die befürchtet, bald keine Arbeit mehr zu haben, weil die Firma, bei der sie arbeitet, hoch verschuldet ist, klingt nicht so optimistisch. Wie die meisten Griechen lebt sie in einer Kriegsstimmung. Sie hat angefangen, Lebensmittel zu horten, und ihr erspartes Geld von der Bank abgehoben. »Ich bin erschrocken, weil ich nicht weiß, was nach dem Schuldenschnitt auf uns zukommt. Die Regierenden haben das Land kampflos den Gläubigern übergeben.«

Auf dem EU-Gipfel hatten die Staats- und Regierungschefs am Sonntag in Brüssel einen Schuldenschnitt für Griechenland unter höherer Beteiligung der Banken vorbereitet. Deutschland dringt auf einen Schuldenschnitt von über 50 Prozent, Frankreich will dies aus Angst um seine Banken, die viele griechische Anleihen halten, vermeiden. Ein Schuldenschnitt würde nicht nur die Banken, sondern mehr noch die Pensionskassen Griechenlands treffen, denn viele von ihnen sind stark in griechischen Staatsanleihen engagiert. Ein von der sogenannten Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank verfasster Bericht mit dem Titel »Schuldentragfähigkeitsanalyse« kommt zu dem Schluss, dass es um Griechenland noch schlechter steht als angenommen und das Land mehr Hilfe braucht als vorgesehen. Die im Juli vereinbarten 109 Milliarden Euro der Euro-Staaten und des IWF reichen nicht aus. Bis zum Jahre 2020 betrage der Finanzbedarf des Landes rund 252 Milliarden Euro. Die Schuldenquote Griechenlands könnte bis zum Jahr 2020 auf mehr als 180 Prozent des Bruttoinlandprodunkts steigen, falls nichts unternommen wird, warnen Fachleute.