Das Sanierungsprogramm der EU

Ein deutscher Hebel für Europa

Über den Druck der Anleger soll die Konkurrenzfähigkeit der Volkswirtschaften des Euro-Raumes verbessert werden. Das ist das Ergebnis des EU-Gipfels, der in der vergangenen Woche unter deutscher Führung stattfand. Der Einfluss der EU-Regierungen auf die eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik geht weiter zurück.

Das Bild ging um die Welt: Zu Beginn des EU-Gipfels steht Bundeskanzlerin Angela Merkel vor ­einer Menge von Journalisten, während ihre Amtskollegen eher unbeachtet zu den Verhandlungen gehen. Die linke griechische Boulevard-Zeitung Eleftherotypia beschrieb nach Abschluss des Gipfels am Donnerstag vergangener Woche die hier sichtbar gewordene deutsche Hegemonie so: »Kanzlerin Merkel macht, was sie will. Für Griechenland hat sie den Schuldenschnitt von 50 Prozent sowie tiefgreifende Strukturreformen und die damit unweigerlich verbundenen Sparmaßnahmen durchgesetzt. Das ist die wirkliche Gegenleistung für das Schuldenschnitt-›Geschenk‹: der Sparkurs.« Zu einer ganz anderen Bewertung kam Merkel selbst. »Wir haben gezeigt, dass wir die richtigen Schlüsse gezogen haben«, verkündete sie bei der abschließenden Pressekonferenz. Unbestritten ist, dass die deutsche Regierung ihre Vorstellungen durchsetzen konnte.
Bereits die zwischen den EU-Gipfeln abgehaltenen Treffen des »Frankfurter Kreises«, an denen Merkel, Nicolas Sarkozy, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, und die Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, teilnahmen und auf denen die entscheidenden Vorschläge erarbeitet wurden, verdeutlichten die deutsche Vormachtstellung innerhalb des Euro-Raumes. Die Verhandlungen mit den Banken um einen fünfzigprozentigen Schuldenschnitt für Griechenland übernahmen Merkel und die mit ihr in allen wichtigen Punkten übereinstimmende Lagarde gleich allein – und hatten damit, zur Freude insbesondere der konservativen Medien in Frankreich, Erfolg. »Bei der Wahl zwischen Merkels Deutschland und Berlusconis Italien brauchen wir wohl nicht zu zögern. Diejenigen, die kritisieren, dass Paris sich angeblich Berlin unterordnet, haben nicht verstanden, wie tief wir in der Krise stecken«, kommentierte etwa Le Figaro. »Die deutsche Vorherrschaft ist ein Element der sich abzeichnenden neuen Architektur. Diese soll uns zu ehrgeizigen Projekten motivieren, um Europa neu aufzubauen, Hand in Hand mit Deutschland«, hieß es weiter.

Ein wichtiges Element des Sanierungsprogramms besteht in der Ausweitung der wirtschaftspolitischen Staatsräson der Bundesregierung auf die übrigen Staaten der EU. Neben dem Schuldenschnitt, den relativ unstrittigen Soforthilfen für Griechenland in Höhe von 100 Milliarden Euro, die die Zahlungsunfähigkeit des Landes verhindern sollen, und Plänen zur Erhöhung der Eigenkapitalquoten der Banken auf bis zu neun Prozent ist das zentrale Ergebnis des Gipfels die »Hebelung«, also die Aufstockung der Gelder des europäischen Hilfsfonds EFSF auf etwa eine Bil­lion Euro. Erreicht werden soll dies, indem die Kreditvergabe nicht mehr Aufgabe des derzeit über 440 Milliarden Euro verfügenden EFSF sein, sondern dieser nur noch teilweise das Risiko eines Zahlungsausfalls für Schuldtitel gefährdeter Euro-Staaten übernehmen wird. Diese »Teilkaskoversicherung«, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), auf Anleihen der Euro-Staaten soll Anleger animieren, weiterhin in südeuropäischen Staaten zu investieren. Zudem soll ein neuer Sonderfonds geschaffen werden, an dem sich der IWF beteiligt. Dieser Fonds investiert in Anleihen, die der EFSF zum Teil ebenfalls absichert. Daran könnten sich ausländische Investoren wie Staatsfonds aus China beteiligen.
Diese Lösung bedeutet nicht nur den Abschied vom Konzept der Ausgabe von Eurobonds. Mit ihr wird das Terrain bereitet, um nach deutschem Vorbild der im März vorgestellten Initiative »Europa 2020« zum Erfolg zu verhelfen. Das gleiche Ziel verfolgte die 2000 verkündete Lissabon-Strategie, nach der Europa bis 2010 zur »dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensgestützten Wirtschaft der Welt« hätte aufsteigen sollen, was offensichtlich nicht erreicht wurde.
Wie schon bei der »Agenda 2010«, Deutschlands Projekt zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit des Standortes, das von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble in den vergangenen Wochen mehrfach als »Positivbeispiel« angeführt wurde, geht es derzeit nur am Rande um die Sanierung der Staatsfinanzen – auch die Hartz-IV-Reformen waren insgesamt teurer als die alte Sozialgesetzgebung. Denn die Versicherung der Anleihen wird dazu führen, dass die zur Verfügung stehenden Gelder häufiger zum Ausgleich der Verluste herhalten müssen und im Anschluss verschwunden sein werden, während bei der Kreditvergabe durch den EFSF wenigstens Teile der Schuldensummen getilgt worden wären. »Mit der Hebelwirkung steigt natürlich auch das Risiko. Das kann auch durch vernebelnde Hinweise der Bundesregierung hinsichtlich einer unveränderten maximalen Garantiesumme nicht verdeckt werden. Wenn von Staatsanleihen im Wert von 500 Milliarden Euro die riskantesten 20 Prozent ›versichert‹ werden, ist das Risiko erheblich höher, als wenn 100 Milliarden Euro zu 100 Prozent garantiert werden«, fassen die drei konservativen Wirtschaftswissenschaftler Harald Hau, Ulrich Hege und Bernd Lucke das Dilemma in einem Artikel in der FAZ zusammen. »Das liegt daran«, heißt es weiter, »dass eine Staatsinsolvenz praktisch nie ein Totalausfall ist, sondern typischerweise einen Forderungsausfall von 20 bis 30 Prozent mit sich bringt. Bei einer Ausfallrate von 20 Prozent bedeutet ein fünffacher Hebel ein fünffaches Risiko.«

Der Druck der Anleger und der EZB, deren Unabhängigkeit Merkel und Schäuble nochmals eindringlich verteidigten, soll künftig vor allem die Staaten des Euro-Raumes unabhängig vom Willen der Regierungen, die um demokratische Legitimierung ringen, dazu bringen, die Konkurrenzfähigkeit aller Volkswirtschaften zu optimieren. Zurück in Deutschland, drückte Merkel dies mit der Hoffnung aus, die Ergebnisse des Gipfels seien der Beginn einer neuen Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa, da die »Sünden« in der Vergangenheit angeblich »nicht hart genug geahndet« werden konnten. Bereits der Beteiligung des IWF an den Strukturanpassungsprogrammen Griechenlands lag die Überlegung zugrunde, die politische Anfälligkeit zu reduzieren. Der regierungseigene deutsche Think-Tank »Stiftung Wissenschaft und Politik« hatte dies damals bereits als Verpflichtung der Politik zu einem »Reform- und Konsolidierungskurs« beschrieben, in deren Zentrum, wenig verwunderlich, »neben Lohnzurückhaltung und Arbeitsmarktreformen (…) Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung« notwendig seien. Diese Strategie wurde nun erfolgreich angewandt.
Den ersten dieser »Reformpolizisten« könnten die chinesischen Staatsfonds mit ihren gigan­tischen Devisenreserven von geschätzten 3,2 Billionen US-Dollar darstellen. Chinas Premierminister Wen Jiabao, der zuletzt immer wieder angeboten hatte, Europa »eine helfende Hand auszustrecken«, hatte dies neben einigen politischen Bedingungen stets an die Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften geknüpft. Einer der ersten, der die Zeichen der Zeit verstanden zu haben scheint, ist Griechenlands Premierminister Giorgos Papandreou. »Wenn wir diese Schlacht gewonnen haben – da bin ich optimistisch – werden wir gemeinsam ein produktives Griechenland schaffen«, sagte er im Anschluss an den Gipfel. Dass dies zu Lasten der meisten seiner Landsleute gehen wird, versteht sich von selbst.