Hat die erste deutsche Messe zum Thema Veganismus in Berlin besucht

Fast wie echter Käse

Punks, Esos, Kleinfamilien, die Unmengen von Kostproben wegfuttern, ein bisschen Mitleid für die armen Tiere und sogar einen Hauch Kapitalismuskritik – das alles gab es auf der ersten deutschen Messe zum Thema Veganismus in Berlin.

Sie sind schon von weitem zu sehen, die vier charakteristischen Schornsteine der alten Malzfabrik in Berlin-Tempelhof. Früher wurde hier das Malz für die Schultheiss-Brauerei hergestellt. Heutzutage beherbergen die rot verklinkerten Gebäude neben diversen hippen Kleinunternehmen vor allem ein ökologisch angehauchtes Veranstaltungszentrum. Wenn man den Stadtplan betrachtet, scheint das Areal mitten in Berlin zu liegen, doch von der Innenstadt aus gesehen wirkt es unendlich weit weg. Außerhalb des S-Bahn-Rings, irgendwo da draußen neben Ikea. Und dennoch ist die Schlange am Einlass sehr lang an diesem Samstag im November. Offenbar gibt es großes Interesse an dem, was drinnen verteilt auf dreieinhalb Hallen geschieht. Das war nicht unbedingt zu erwarten, denn immerhin ist die »Veganfach« die erste Messe überhaupt in Deutschland zum Thema Veganismus.
»So genau konnte im Vorfeld niemand wissen, wie gut die Veranstaltung laufen würde, und mit nur drei Monaten Vorbereitungszeit von der Idee bis zur Eröffnung blieb auch nicht viel Zeit für detaillierte Planungen«, sagt Christian Vagedes, Vorsitzender der Veganen Gesellschaft Deutschland. Mit der Resonanz ist er zufrieden: »All unsere Erwartungen wurden weit übertroffen. Hätten wir drei Monate mehr Zeit gehabt, hätten wir doppelt so viele Aussteller bekommen.«
Doch auch so sind mehr als 70 Aussteller nicht gerade wenig für eine Messe, bei der es eigentlich nur um einen Nischenmarkt geht. Weniger als ein Prozent der deutschen Bevölkerung ernährt sich vegan, dennoch boomt das Geschäft. Konnten vegan lebende Menschen vor zehn Jahren noch froh sein, wenn sie sich miserabel schmeckende Sojamilch aus dem Reformhaus leisten konnten, gibt es mittlerweile Soja-Reis-Drinks für weniger als einen Euro bei Aldi, die Auswahl an Fleisch­ersatzprodukten wächst stetig. Ob das daran liegt, dass die Zeit für die vegane Idee reif ist, wie Vagedes meint, oder ob es sich dabei um einen von vielen weiteren Ernährungstrends in Zeiten des Bio-Hype und »Lohas« (»Lifestyle of Health and Sustainability«) handelt, wird vermutlich auch in den kommenden Jahren Ansichtssache bleiben.

Eines lässt sich jedoch mit Sicherheit festsstellen und ist auch bei einem Rundgang durch die Malzfabrik kaum zu übersehen: Veganismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Zwar ist die Piercing-Quote auf der Messe enorm hoch und eine gewisse Verbindung zur Hardcore- und Punkszene ist bei einem Teil des Publikums offensichtlich, doch grün-bürgerliche Kleinfamilien sind auch hier, ebenso wie die tierliebenden Rentnerinnen, die Gesundheitsfreaks und die »ganz normalen« Leute, die in keine Schublade so recht passen. Und natürlich fehlt die Esoterikfraktion nicht. Für deren Anhängerinnen und Anhänger befindet sich ein Höhepunkt ganz am Ende von Halle 3, neben dem Stand des österreichischen veganen Hotels »Loving Hut«. Hier steht ein Fernsehteam von »Supreme Master Televison«, einem Satellitensender, der sich ganz der Verbreitung der Lehre der »Höchsten Meisterin« Ching Hai verschrieben hat. Auch das »Loving Hut« gehört zum Imperium der 61jährigen »spirituellen Lehrerin«, die von ihrem Wohnsitz in Frankreich aus versucht, mit einer wirren Mischung aus Buddhismus, Veganismus und vor allem großem Geschäftssinn die Welt zu retten. Die junge Frau, die gerade interviewt wird, heißt Natascha und gibt sich ebenfalls geschäftstüchtig. Freigiebig verteilt sie selbstgebastelte Visitenkarten. Sie wirbt damit für ihren Youtube-Kanal, auf dem die selbsternannte »Künstlerin und Visionärin« nichts anderes als wirres Zeug redet. Seit vier Jahren lebe sie nun schon vegan und das tue sie für nichts Geringeres als »den Frieden und die Erde«. Besonders stolz ist sie auf ihre »veganen« Schuhe, außerdem ist sie sicher, dass der Veganismus ihr nach ihrer Blinddarmoperation das Leben gerettet habe. Dafür ist sie, wem auch immer, »sehr dankbar«.
Klischeehafte Begegnungen dieser Art sind auf der »Veganfach« zu erwarten, allerdings glücklicherweise nicht die Regel. Die meisten Besucherinnen und Besucher gehen offenbar weniger aus »spirituellen« denn aus materialistischen Gründen durch die Gänge der Messe. Viele scheinen einfach nur hier zu sein, um Essen zu kosten, und zwar alles, und davon viel. An etwa der Hälfte der Stände warten irgendwelche von Zahnstochern aufgespießte Delikatessen darauf, verschlungen zu werden. »Ich habe so etwas noch nicht erlebt«, sagt Christian, der an einem Stand Frühlingsrollen und ähnliches feilbietet, »ich bin nicht zum ersten Mal auf einer Messe, aber wie schnell hier alles weggefuttert wird, das habe ich noch nie gesehen.« Dabei ist es völlig egal, ob es sich um den brandneuen »Vegibelle No. 1«, eine Art rein pflanzlichen Mozzarella-Haloumi-Verschnitt, um veganen Leberkäse oder um ganz schnöden Tofu handelt. Was auf den Tisch kommt, verschwindet in Windeseile. Wie viele Zahnstocher hier in den paar Stunden verbraucht werden, lässt sich nur erahnen, aber ein oder zwei Bäume werden es schon sein.
Am Stand von »Lord of Tofu«, in Halle 2, geht man noch einen Schritt weiter. Dort stecken nicht einfach Zahnstocher in den angebratenen Tofustückchen, sondern kleine Deutschlandfähnchen. »Hier kommt alles aus Deutschland«, sagt eine der zwei älteren Frauen hinter dem Elektrogrill. Wahrscheinlich hält sie es für ein starkes Verkaufsargument, und es steht zu befürchten, dass es bei nicht wenigen Besucherinnen und Besuchern sogar gut ankommt.

War Veganismus vor einigen Jahren noch relativ fest in linken Milieus verankert, haben im Zuge der Verschmelzung mit der Biobranche auch immer mehr Menschen den veganen Lifestyle entdeckt, die mit emanzipatorischer Politik oder kritischem Denken gar nichts zu tun haben. Ähnlich sieht es auch eine Gruppe Berliner Aktivistinnen und Aktivisten, die auf der Messe Flugblätter verteilt, auf denen Kritik an der Veranstaltung geäußert wird: »Die Veganfach ist eine reine Single-Issue-Veranstaltung, die sich kapitalistischer Logiken bedient und die damit einhergehenden Ausbeutungs-, Ausgrenzungs- und Konkurrenzverhältnisse reproduziert. Die zentrale These der Messe ist, dass Gesellschaft und das Bewusstsein über angeblich ethisch und ökologisch korrekten Konsum verändert werden können.«
Dieser Probleme ist sich auch Kim Wonderland bewusst, die Gründerin des Onlineshops »Vegan Wonderland« und eine Berühmtheit in der Szene: »Kapitalismus ist ein schwieriges Thema. Bis auf weiteres müssen wir uns wohl oder übel mit ihm arrangieren. Ich versuche wenigstens, faire Löhne zu zahlen und günstige Preise anzubieten, um möglichst niemanden auszuschließen.« Mit ihren gefärbten Haaren, ihren Piercings und Tattoos fällt sie unter den Ausstellern auf. Punks sind eher die Ausnahme hinter den Tischen. Die meisten Stände sehen etwa so politisch aus wie eine durchschnittliche Currywurstbude. Das bedeutet zwar nicht, dass die Idee des Veganismus prinzipiell regressiv und die Kritik an Tierausbeutung grundsätzlich falsch ist. Eingebettet in eine Kritik gesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse können sie durchaus sinnvoll sein. Wenn eine solche Kritik jedoch fehlt, endet nahezu jede argumentative Begründung für eine fleisch- oder tierproduktfreie Lebensweise beinahe zwangsläufig immer wieder an ein und demselben Punkt: »Aber die armen Tiere!« Diese Aussage ist aber etwa genau so politisch wie der Satz: »Fleisch schmeckt mir halt.«

Aber die »Veganfach« in Berlin ist keine politische, sondern in erster Linie eine kommerzielle Veranstaltung: Es geht vor allem um die Befriedigung spezieller Konsumbedürfnisse, ethische, politische oder gesundheitliche Gründe sind dabei nebensächlich. Die Botschaft lautet: Es ist legitim, wenn Menschen nicht wollen, dass Tiere leiden. Ebenso legitim ist es aber auch, wenn sie dabei nicht auf Genuss und kulinarische Finesse verzichten wollen. Ganz weit vorne in dieser Hinsicht steht etwa die Räuchersalami einer bayerischen Firma, aber auch der Chorizo-Aufschnitt eines Unternehmens aus Baden-Württemberg ist nicht zu verachten.
Besondere Aufmerksamkeit bekommt auch ein Produkt, das gar nicht wirklich an einem Stand präsentiert, sondern bloß an der Bar verkauft wird: die neue Cola eines Hamburger Brause­her­stellers. Kaum zwei Wochen nach dem EU-Beschluss zur Legalisierung des pflanzlichen Zuckerersatzstoffes, der vor allem in der Ökoszene seit langem angepriesen wird, bringt die Firma damit das erste Produkt mit dem Süßstoff auf den Markt. Das Ergebnis ist aber eher enttäuschend. Offenbar schmecken pflanzliche Zuckerersatzstoffe nicht besser als chemische.
Deutlich mehr verspricht das Angebot einer Firma, die auf Guarana-Produkte spezialisiert ist. Der Guarana-Kakao schmeckt hervorragend und ist angeblich nicht nur gesünder und schonender für den Magen als Kaffee, sondern hat auch noch andere Vorteile, wie Burkhard Osterloh zu berichten weiß: »Guarana braucht zwar ein wenig, bis es wirkt, aber dann hält es vier bis sechs Stunden wach. Es steigert Konzentration und Leistungsfähigkeit und wirkt dazu auch noch stimmungsaufhellend.« Und bei einem Preis von nur 40 Euro für 500 Gramm ist es zudem auch noch deutlich billiger als Koks. Langsam wird die Messe interessant.
Auch draußen vor der Halle passiert derweil einiges. Patrik Baboumian, der auch als »stärkster Mann Deutschlands« bekannt und seit Jahren Vegetarier ist, zieht mit bloßen Händen einen Kleinbus samt großem Kunststoffschwein auf dem Anhänger über den Hof. Das »Grunzmobil« wiegt sicher einige Tonnen, Baboumians Leistung ist beeindruckend. Noch beeindruckender ist allerdings, dass der selbsternannte »Armenian Viking« aus Hessen aussieht wie Wolverine von den »X-Men«. Nur noch stärker.
Auch auf der Bühne in Halle 1 gibt es ordentlich Programm, und wie es sich gehört, hinkt alles ein wenig im Zeitplan hinterher. Es gibt Back- und Kochshows, einen Vortrag über die großartigen Vorzüge der Süßlupine, gerne auch das »Soja des Nordens« genannt, und Moderator Christian Vagedes verleiht fleißig »Vegane Innovationspreise 2011«. Einer geht an den ersten Vegansupermarkt Deutschlands, ein anderer an einen jungen Mann mit Dreadlocks, der sich für veganes Essen in Uni-Mensen einsetzt. Die anderen gehen an diverse Firmen, die hier Stände haben, und an Leute, die hier Vorträge halten. Irgendwie praktisch. Überhaupt entsteht der Eindruck, dass hinter den Kulissen jeder jeden kennt und hier alle wahlweise eine große Familie oder aber ein großer Klüngel sind.
Elizabeth Burrer vom Vegetarierbund steht hinter ihrem Klapptisch ganz hinten im letzten Raum bei den alten Damen, die sich gegen Tierversuche engagieren. Sie sagt, Veganismus sei »mittlerweile mehr als nur ein Trend«. Vielleicht hat sie recht. Fest steht jedenfalls, dass Menschen sich aus ziemlich unterschiedlichen Gründen für den Verzicht auf Tierprodukte entscheiden und dass nicht alle Gründe gleichermaßen sympathisch sind. Aber so ist es wohl mit allem, was im Mainstream ankommt.
Immerhin gibt es mittlerweile schmackhaftes veganes Spaghettieis und Sojakäse, der beim Überbacken schmilzt. Fast wie echter Käse. Gesellschaftskritische Verzichtsethik sieht sicher anders aus. Aber irgendetwas muss man ja schließlich essen. Warum dann nicht etwas, das gut schmeckt?
Als die Messe am frühen Abend ihre Pforten schließt, ist es draußen schon dunkel. Bei Ikea brennt noch Licht. Vermutlich waren dort heute weit mehr Menschen als in der Malzfabrik. Ganz so bedeutend, wie es sich anfühlt, wenn man mittendrin steckt, ist das Thema Veganismus dann wohl doch nicht.